Berlin. Immer mehr Männer werden wegen psychischer Leiden krankgeschrieben. Woran das liegt – und warum Frauen noch stärker betroffen sind.

Die Symptome kommen oft schleichend. Man fühlt sich erschöpft, schläft schlecht, kann sich beim Arbeiten nicht richtig konzentrieren, die Freude fehlt, das Selbstwertgefühl schrumpft oder das Herz rast – und plötzlich geht irgendwie nichts mehr. Immer mehr Beschäftigte in Deutschland werden wegen psychischer Leiden und Depressionen krankgeschrieben. Vor allem bei Männern haben die Ausfalltage im Job extrem zugenommen.

Die KKH Kaufmännische Krankenkasse hat im vergangenen Jahr bundesweit rund 57.500 Krankschreibungen mit 2,3 Millionen Fehltagen wegen seelischer Leiden registriert. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies eine Zunahme von 16 Prozent, wie diese Redaktion erfuhr. Damit wächst die seit Jahren steigende Zahl von Patienten mit Depressionen weiter.

Die Ursachen für die Zunahme sind vielfältig. Die Folgen der Corona-Pandemie, des Lockdowns, der angespannten Homeoffice-Situationen, damit verbundener Überforderungen, aber auch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges haben das Leben nicht einfacher gemacht. Während sich in den ersten beiden Corona-Jahren noch keine großen Veränderungen bei den Erkrankungen ergeben hatten, wird die Krise 2022 umso deutlicher, so die KKH.

Männer mit Depressionen: Besonders lange Krankschreibungen

Unterm Strich machen psychische Erkrankungen 4,6 Prozent aller Krankschreibungen aus. Am meisten sind Beschäftigte aus den Bereichen Krankenpflege, Erziehung und Sozialarbeit betroffen, aber auch im Handel oder in der öffentlichen Verwaltung. Dabei sind die meisten psychisch Leidenden lange krankgeschrieben – im Schnitt 39,5 Tage im Jahr. Zum Vergleich: Über alle Krankheiten hinweg fehlten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 2022 durchschnittlich 13,1 Tage am Arbeitsplatz.

Die meisten seelisch Erkrankten fehlen wegen sogenannter „depressiver Episoden“. 30 Prozent wurden deshalb krankgeschrieben. Auslöser dafür können Verlustängste durch politische, gesellschaftliche und private Krisen sein, aber auch scheinbar positive Veränderungen wie die Geburt eines Kindes.

„Ob jemand langfristig an einer Depression erkrankt, hängt meist vom Zusammenwirken mehrerer Faktoren ab“, erläutert Aileen Könitz, Ärztin und Expertin für psychiatrische Fragen bei der KKH. Generell seien die Ursachen sehr individuell und vielfältig. „Oft kann man auch nur Hypothesen aufstellen, welches die Ursachen und Auslöser waren.“

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Zweithäufigste Ursache sind Anpassungsstörungen, weshalb 28 Prozent krankgeschrieben werden. Wenn Menschen beispielsweise Angehörige oder Freunde verlieren, ihren Arbeitsplatz oder auch ihr Haus, so kann dies Menschen vorübergehend psychisch krank werden lassen. 14,6 Prozent der Beschäftigten fallen wiederholt in Depressionen.

Männer: Angststörungen nehmen besonders zu

Neben Angststörungen (8,2 Prozent) entfallen 12,3 Prozent der Krankschreibungen auf sogenannte somatoforme Störungen – das sind psychosomatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, die aber keine organische Ursache haben.

Besonders auffällig ist, dass die aktuellen Krisen den Männern stärker auf die Seele schlagen als den Frauen. Während bei Frauen die Zahl der psychischen Erkrankungen im vergangenen Jahr um 11,9 Prozent zugelegt haben, betrug der Anstieg unter Männern 24,1 Prozent. Unterm Strich werden zwar immer noch sehr viel häufiger Frauen wegen psychischer Erkrankungen krankgeschrieben als Männer, aber der Abstand sinkt: So waren 2022 rund 66 Prozent Frauen wegen seelischer Leiden krankgeschrieben und 34 Prozent Männer – im Jahr zuvor lag das Verhältnis noch bei 69 zu 31 Prozent.

Besonders stark nahmen bei Männern Angststörungen (40,2 Prozent plus) zu, während es bei Frauen nur 19,2 Prozent mehr waren. Auch litten 21,8 Prozent mehr Männer unter somatoformen Störungen, während diese bei Frauen nur um 6,2 Prozent zulegten.

Corona und weniger Sport führen zu mehr Krankschreibungen

„Es sind vor allem die Folgen der Einschränkungen während der Corona-Krise, die sich nun offensichtlich bei den Männern psychisch bemerkbar machen“, sagt die KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick. Viele Männer hätten während der Corona-Pandemie weniger Sport getrieben wie Fußball oder Handball. „Der dadurch entstandene Bewegungsmangel und der fehlende soziale Austausch scheinen sich nachhaltig negativ auf die Psyche, also auf Antrieb und Motivation und die allgemeine Stimmungslage ausgewirkt zu haben“, schätzt Judick.

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Durch den Ukraine-Krieg habe sich die Finanzlage in manchen Haushalten zudem durch die hohe Inflation verschlechtert. „Da sich Männer häufig mehr Sorgen um ihre Perspektiven im Job und die wirtschaftliche Situation ihrer Familie machen als Frauen, leiden sie möglicherweise besonders stark unter Existenzängsten“, meint Judick.

Anforderungen an Frauen sind noch höher

Dass insgesamt mehr Frauen psychisch erkranken, liegt wiederum darin begründet, dass sie oft als multifunktionale Talente unterwegs sind. Viele müssen einen Spagat zwischen Job, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen leisten. Diese Situation bestand bei vielen Frauen oft auch schon vor der Pandemie. Doch die Lage hat sich mit Corona noch verschärft. So mussten sie ihre Kinder oft neben der Arbeit im Homeoffice betreuen, während sie im Job weiter Bestleistungen abliefern sollten. Das hat die Krankenquote auch bei Frauen weiter erhöht.

Nicht jede Depression und jedes seelische Leiden lässt sich vermeiden, sagt Könitz. „Auf sich zu achten, sich körperlich zu bewegen, sich gesund zu ernähren, mit Menschen über Probleme zu sprechen kann aber vorbeugend die eigenen Kräfte stärken.“ Wichtig sei es, sich frühzeitig Hilfe zu suchen, um Stress und Belastungen abzubauen.