Berlin. Fehler passieren, auch in der Medizin – schlimm, wenn die Folgen schwer sind. Die Dunkelziffer ist hoch. Ein Meldesystem könnte helfen.

Anfang 20 und kaum noch leistungsfähig. Das Studium liegt auf Eis. Das vergangene Jahr – eine körperliche und emotionale Qual. Sophie Nowak (Name geändert) ist nach einer sogenannten Lumbalpunktion nicht mehr belastbar, Nervenwasser tritt weiter an der Wirbelsäule aus, regelmäßig hat sie starke lagebedingte Kopfschmerzen, Übelkeit, Gleichgewichts- und Konzentrationsstörungen. Die Symptome bessern sich nur im Liegen – und auch so teils nur geringfügig.

Der achtjährige Maxim (Name geändert) hat Pflegestufe 4, muss regelmäßig zur Ergo- und Logopädie und besucht eine Förderschule. Der Grund: Sauerstoffmangel während der Geburt. Seine leibliche Mutter verstarb, zehn Tage nachdem sie ihn zur Welt brachte, in einem Essener Krankenhaus – laut Gutachten an den Folgen des Geburtsprozesses.

Kim Bilobrk lernte wenig später Maxims Vater kennen und lieben. Sie setzt sich für ihn und seinen Sohn ein, kämpft mit dem Vater „für Gerechtigkeit“, wie sie sagt. Unterstützung bekommt sie dabei von der Techniker Krankenkasse (TK), bei der der Junge versichert ist – und ist damit bei Weitem kein Einzelfall.

Behandlungsfehler: Tausende wenden sich an Krankenkasse

Allein knapp 6000 Versicherte haben sich vergangenes Jahr wegen des Verdachts auf einen Behandlungsfehler an die TK gewandt. Diese Zahlen liegen unserer Redaktion exklusiv vor. Laut der Krankenkasse verharren die Fallzahlen damit seit der Corona-Pandemie auf hohem Niveau. „Gleichzeitig können wir nur jeden dritten uns gemeldeten Behandlungsfehler im Verlauf der Überprüfung auch erhärten“, räumt TK-Medizinrechtsexperte Christian Soltau ein.

Stellt man die Zahlen den 88 Millionen ambulanten und 1,8 Millionen stationären Behandlungen von TK-Versicherten im Jahr 2021 gegenüber, die 2022 nach Angaben von Sprecher Michael Ihly wohl ähnlich ausfallen dürften, scheint dies zunächst nicht viel – laut Experten ein Trugschluss.

Hohe Dunkelziffer bei Behandlungsfehlern vermutet

Es sei klar, dass diese Zahlen nur ein Indikator für die Versorgungslage sein können, meint Soltau. „Die Dunkelziffer ist Studien zufolge erheblich.“ Das betont auch Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes (MD) Bund im Gespräch mit unserer Redaktion. „Man geht davon aus, dass nur etwa drei Prozent der auftretenden Behandlungsfehler in irgendeiner Statistik erfasst werden.“ Und hinter jedem Fall versteckten sich teils schlimme Schicksale. Wirkliche Transparenz gebe es nicht.

Dem Medizinischen Dienst zufolge werden pro Jahr konstant etwa 13.000 bis 15.000 Fälle zur Begutachtung vorgelegt. Gronemeyer: „In rund jedem vierten Fall bestätigt sich der Verdacht eines Behandlungsfehlers.“ In jedem fünften Fall könne bestätigt werden, dass der Fehler nachweislich Ursache eines entstandenen Schadens ist. „Wir sprechen von Kausalität.“ Letzteres ist wichtig für Betroffene. Denn nur wenn dieser Nachweis geführt werden kann, können sie vor Gericht eventuell Schadenersatzansprüche geltend machen.

Geburtsfehler: Opfer kämpfen im Schnitt mehr als zehn Jahre um Recht

An diesem Punkt befinden sich Bilobrk, ihr Partner und dessen Sohn aktuell. Nach einem strafrechtlichen Erfolg versuchen sie weiter auch zivilrechtlich recht zu bekommen – insgesamt zieht sich das Verfahren nun schon fast acht Jahre. Der älteste Fall, den die TK derzeit betreue, stamme sogar aus dem Jahr 2008, so Medizinrechtsexperte Soltau. Keine Einzelfälle. Bei Geburtsfehlern etwa müssen Opfer laut Soltau im Schnitt mehr als zehn Jahre für ihr Recht kämpfen.

„Dass sich Verfahren oft so in die Länge ziehen, liegt daran, dass die Betroffenen beweisen müssen, dass der Fehler, der gemacht wurde, auch tatsächlich den Schaden verursacht hat“, erklärt Gronemeyer. Er rät daher nicht nur, direkt das Gespräch mit dem behandelnden Arzt zu suchen, sondern auch ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen, sobald man einen Behandlungsfehler vermutet.

Behandlungsfehler: Die meisten gemeldeten Verdachtsfälle beziehen sich mit knapp einem Drittel auf eine chirurgische Behandlung.
Behandlungsfehler: Die meisten gemeldeten Verdachtsfälle beziehen sich mit knapp einem Drittel auf eine chirurgische Behandlung. © iStock | istock

Fehler durch Arzt: An wen sich Betroffene wenden können

Im nächsten Schritt können Betroffene ihre Krankenkasse und deren Fachabteilungen um Unterstützung bitten oder sich an die Schlichtungsstellen der Ärztekammern oder einen Medizinrechtsanwalt wenden – samt Behandlungsprotokoll und einer Entbindung von der Schweigepflicht. „Die Krankenkasse hat uns nicht nur beraten, sondern die externen Gutachterkosten mit übernommen“, erzählt Kim Bilobrk. „Ich weiß nicht, wie wir das sonst gestemmt hätten.“ Auch die Krankenkassen haben ein Interesse daran, dass Behandlungsfehler anerkannt werden. Denn diese ziehen oft hohe Folgekosten nach sich durch Arztbesuche, Therapien, Medikamente.

Nowak hat sich gegen rechtliche Schritte entschieden. Das postpunktionelle Syndrom, unter dem sie unter anderem leidet, ist eine bekannte Nebenwirkung einer Punktion – dass dieses über ein Jahr anhält, ist indes äußerst selten. Erschwerend hinzu kam eine unerkannte Entzündung nach dem Eingriff. Den Ärzten hier einen Behandlungsfehler nachzuweisen, sei ex­trem schwer, weiß Nowak heute. Hinzu kommt: Die junge Frau möchte einmal im medizinischen Bereich arbeiten und fürchtet, „es sich mit einer Klage mit den Kliniken zu verscherzen“.

Schon jetzt muss sich Nowak, wie sie sagt, „dumme Sprüche“ der Ärzte gefallen lassen: Sie dürfe sich einfach nicht hängen lassen, müsse endlich mehr Sport treiben – etwas, über das die Wettkampfsportlerin nur müde lächelt. Kraft für einen Prozess habe sie nicht. „Ich will einfach nur mein Leben zurück.“ Die junge Frau setzt daher nun auf die Hilfe einer Ärztin der Berliner Charité, die ihr in einer Selbsthilfegruppe empfohlen wurde.

Behandlungsfehler: Hier sind Verdachtsfälle am häufigsten

Die Fälle von Nowak sowie von Maxim und seiner Mutter betreffen Facharztgruppen, in denen Behandlungsfehler am häufigsten gemeldet beziehungsweise bestätigt werden. Ein Bild, das sich mit der neuen TK-Auswertung deckt: Die meisten gemeldeten Verdachtsfälle beziehen sich hier mit knapp einem Drittel auf eine chirurgische Behandlung. Die Zahnmedizin stellt laut TK rund 17 Prozent der gemeldeten Verdachtsfälle. Bei Allgemeinmedizin sowie bei Geburtshilfe und Gynäkologie sind es je 10 Prozent. Danach folgen im einstelligen Prozentbereich Pflegefehler, Orthopädie und Augenheilkunde.

Ein ähnliches Bild zeigte sich auch beim Medizinischen Dienst. Allerdings sage eine Häufung von Vorwürfen in einem Fachgebiet nichts über die tatsächliche Fehlerquote oder die Sicherheit aus, betont Gronemeyer. Oft seien Fehler in diesen Bereichen leichter erkennbar.

Meldesystem gegen Behandlungsfehler gefordert

Die Auswirkungen von Behandlungsfehlern für die betroffenen Patientinnen und Patienten sind dabei sehr unterschiedlich: In zwei von drei Schadenfällen handelte es sich bei der letzten Erhebung des Medizinischen Dienstes Bund lediglich um einen vorübergehenden Schaden. In 6,8 Prozent der Fälle kam es allerdings zu schweren Dauerschäden – etwa Pflegebedürftigkeit, wie bei Maxim –, in 3,8 Prozent der Fälle führte der Behandlungsfehler sogar zum Tod – wie bei Maxims Mutter.

Damit es künftig deutlich seltener zu persönlichen Tragödien kommt, fordert Gronemeyer, stärker darauf hinzuwirken, Fehlern künftig besser vorzubeugen – vor allem durch Meldesysteme für besonders schwerwiegende Schadenereignisse. Gronemeyer: „Hier könnten wir für die Patientensicherheit in Deutschland mehr tun, als wir das aktuell machen.“