Berlin. Sabine Kuegler hat den Bestseller „Dschungelkind“ geschrieben. Als sie krank wird, kehrt sie in den Urwald zurück, um Heilung zu finden.

Kaum jemand kennt sie unter ihrem richtigen Namen, doch als „Dschungelkind“ wurde sie weltberühmt. Sabine Kuegler (50) wuchs mit ihrer Familie bei den Fayu auf, einem Volk, das ohne Kontakt mit der Außenwelt im Dschungel von Indonesien lebte. Ihre Eltern waren Sprachforscher und Missionare. Mit 17 Jahren kam Kuegler auf ein Internat am Genfersee. Über ihr Leben in zwei Kulturen und ihre Anpassungsschwierigkeiten hat sie den Weltbestseller „Dschungelkind“ geschrieben. Jetzt erscheint ihr neues Buch „Ich schwimme nicht mehr dort, wo die Krokodile sind“.

Frau Kuegler, warum sind Sie 2012 in den Dschungel zurückgekehrt?

Sabine Kuegler: Ich bin schwer erkrankt. Ich war erschöpft, mir brannten die Knochen, ich hatte Fieber, ich konnte vor Schmerzen nicht mehr richtig denken, es war, als wäre mein ganzer Körper gelähmt. Ich bin von einem Arzt zum anderen gegangen. Es wurde jeder Test gemacht, jedes Organ untersucht, 100 Mal mein Blut analysiert. Aber es wurde nichts gefunden. Das Tropeninstitut vermutete schließlich, dass ich mir im Dschungel einen unbekannten tropischen Parasiten eingefangen hatte. Die Ärzte verschrieben mir Antibiotikum, aber es brachte nichts.

Sabine Kuegler: Ihre letzte Hoffnung war der Dschungel

Niemand konnte Ihnen helfen?

Kuegler: Nein. Man sagte mir, dass man nichts mehr für mich machen könne. Man würde wahrscheinlich nie rausfinden, welcher Parasit mich befallen hatte. Zudem würde die Suche nach einem Heilmittel wahrscheinlich so lange dauern, dass ich es nicht überleben würde. Die Schulmedizin hatte mich aufgegeben. Aber ich habe mir gedacht: Ich darf nicht sterben, ich habe vier Kinder!

Gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern wuchs Sabine Kuegler im Dschungel von Neuguinea auf. Ihre Erfahrungen hat sie in zwei Büchern niedergeschrieben.
Gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern wuchs Sabine Kuegler im Dschungel von Neuguinea auf. Ihre Erfahrungen hat sie in zwei Büchern niedergeschrieben. © Westend Verlag | Monika Albers

Was haben Sie gemacht, nachdem die Schulmedizin Sie aufgegeben hatte?

Kuegler: Ich habe mir gesagt: Wenn ich mir die Krankheit im Urwald eingefangen habe und mir hier niemand helfen kann, kann ich nur noch bei den Stämmen im Urwald jemanden finden, der die Krankheit und ein entsprechendes Heilmittel kennt. Ich wusste, es war meine letzte Überlebenschance. Trotzdem war es die schwerste Entscheidung meines Lebens.

Im Dschungel ein unbekanntes Heilmittel für eine unbekannte Krankheit suchen: Ist das nicht eine aussichtslose Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen?

Kuegler: Der Dschungel war meine einzige und letzte Chance. Ich hatte das große Glück, dass mein guter Freund Micky Häuptling eines Stammes in Papua-Neuguinea ist und sich gut mit traditioneller Medizin auskennt. Sein Stamm hatte mich Jahre zuvor aufgenommen. Mit ihm bin ich zu Fuß, mit dem Einbaum und kleinen Flugzeugen in die abgelegensten Winkel des Dschungels gereist und habe nach einem Heilmittel gesucht.

Suche nach dem Heilmittel: „Ich wäre fast gestorben“

Haben Sie die Hoffnung irgendwann aufgegeben?

Kuegler: Nach vier Jahren habe ich zu Micky gesagt: Ich probiere noch ein einziges Mittel. Und wenn es dann nicht funktioniert, gehe ich zum Sterben zurück zu meinen Kindern. Ich hatte keine Kraft mehr.

Aber Sie sind nicht zum Sterben nach Deutschland zurückgekehrt...

Kuegler: Nein. Ganz am Anfang unserer Suche haben wir in Papua-Neuguinea in einem bislang kaum erforschten Dschungelgebiet, in dem es wohl noch unentdeckte Stämme gibt, einen Mann kennengelernt, der jahrelang nicht aufgehört hat, nach einem Heilmittel für mich zu suchen. Schließlich hat er einen Medizinmann gefunden, der behauptete zu wissen, wie man meine Krankheit mit dem Saft aus den Rinden von zwei sehr seltenen Bäumen heilen kann.

Sabine Kueglers (m.) Eltern waren Sprachforscher und christliche Missionare. Mit ihren vier Kindern lebten sie lange Jahre in dem kleinen Ort Danau Bira im westlichen Teil der Insel Neuguinea.
Sabine Kueglers (m.) Eltern waren Sprachforscher und christliche Missionare. Mit ihren vier Kindern lebten sie lange Jahre in dem kleinen Ort Danau Bira im westlichen Teil der Insel Neuguinea. © Westend Verlag | Privat

Was ist passiert, als Sie den Rindenextrakt eingenommen haben?

Kuegler: Ich wäre fast gestorben. Ich hatte unerträgliche Schmerzen und hohes Fieber und musste mich ständig übergeben. Aber der Medizinmann hatte genau diese Reaktion vorhergesagt. Denn die Medizin war ein Gift, das das abgetötet hat, was seit Jahren in meinem Körper wütete.

Hat das Gift gewirkt?

Kuegler: Ja. Ich bin geheilt. Ich hatte seitdem nie wieder Symptome.

„Ich hätte meine eigene Identität fast aufgegeben“

Sie sind überzeugt, dass ein unbekanntes Heilmittel aus dem Dschungel geschafft hat, was die westliche Schulmedizin nicht geschafft hat. Sind Sie gegen Corona geimpft?

Kuegler: Ja. Warum nicht? Ich finde, es gibt Aspekte der Schulmedizin, die wirklich gut sind und alternative Heilmethoden, die auch wirklich gut sind. Ich bin offen für beides. Etwas von vornherein kategorisch auszuschließen, finde ich immer falsch.

Als Sie geheilt waren, wollten Sie zunächst im Dschungel bleiben. Sie schreiben, dass Sie bereit waren, dafür das Einzige aufzugeben, was Ihnen noch geblieben war: Ihre Kinder.

Kuegler: Ja, ich war nach fast fünf Jahren im Dschungel so tief in das Stammessystem versunken, dass ich meine eigene Identität, mit allem was dazu gehört – auch meine eigenen Kinder – fast aufgegeben hatte. Ich hatte mich komplett verloren.

Bogenschießen gehörte zu den überlebenswichtigen Skills, die Kuegler im Dschungel lernen durfte.
Bogenschießen gehörte zu den überlebenswichtigen Skills, die Kuegler im Dschungel lernen durfte. © Westend Verlag | Privat

Haben Ihre Kinder Ihnen verziehen?

Kuegler: Natürlich war es für meine Kinder nicht immer leicht, eine Mutter zu haben, die so anders ist als andere Mütter, aber dafür lieben sie mich auch. Sie kennen mich und haben alle ein gutes Selbstbewusstsein. Ich habe sehr enge und gute Beziehungen zu ihnen.

Schlimmste Strafe: Deshalb musste sie den Dschungel verlassen

Warum haben Sie den Dschungel schließlich doch noch verlassen?

Kuegler: Mein Freund Micky hat mir sehr nachdrücklich klargemacht, dass das Stammesleben im Dschungel nach meiner Heilung für mich nur eine Flucht vor meinem Leben im Westen war, das mir so viel Angst machte. Und er hat mich an meine Verantwortung für meine Kinder erinnert.

Als er Sie zur Rede stellte, haben Sie sich Pfeil und Bogen geschnappt, „Ich bringe Dich um!“ gebrüllt, auf ihn geschossen und ihn verletzt. Macht Ihre Kritikunfähigkeit und Unbeherrschtheit Sie zu einer Gefahr für die Gesellschaft?

Kuegler: Nein, ich habe derartiges hier nie verspürt. In der extremen Situation damals habe ich aus purer Angst gehandelt.

Sabine Kuegler als junges Mädchen mit ihren Freunden aus einem indigenen Stamm.
Sabine Kuegler als junges Mädchen mit ihren Freunden aus einem indigenen Stamm. © Westend Verlag | Privat

Im Westen wären Sie im Gefängnis gelandet, wenn Sie in Tötungsabsicht mit Pfeil und Bogen auf einen Menschen geschossen hätten. Sind Sie für Ihre Tat je bestraft worden?

Kuegler: Erstens wollte ich Micky nicht töten, sonst hätte ich anders gezielt. Und zweitens war meine Strafe, dass wir den Stamm verlassen mussten. Das ist die härteste Strafe, die ein Stammesmitglied bekommen kann.

„Dschungelkind“: So verloren fühlte sie sich im Westen

Sie schreiben, dass Sie im Westen Fehler gemacht haben, weil Ihnen ein innerer Kompass fehlte. Welche Fehler haben Sie begangen?

Kuegler: Ich habe jeden Fehler gemacht, den man machen konnte. Ich habe die falschen – oder noch schlimmer – gar keine Entscheidungen getroffen. Ich habe jahrzehntelang nicht geplant. Wenn man bei einem Stamm im Dschungel lebt, geht das vielleicht. Der Stamm nimmt einem viele Entscheidungen ab. Im Westen geht das nicht. Ich hatte sehr lange weder Verständnis noch Gefühl für Finanzen und Eigentum. Im Dschungel spielte das keine Rolle. Aber hier muss man sich damit befassen. Ob man will oder nicht.

Welche Folgen hatte Ihre Verlorenheit?

Kuegler: Als ich mit 17 Jahren aus dem Dschungel auf ein Mädcheninternat in der Schweiz kam, dachte ich, dass dort alle so denken und fühlen wie ich. Die Kultur des Urwalds war die einzige Kultur, die ich gut kannte. Aber weil ich genau so aussah wie alle anderen Mädchen in der Schweiz, dachten dort auch alle, dass ich ticke wie sie. Doch ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der das Kollektiv alles und das Individuum wenig zählt. In der Schweiz war es genau andersrum.

Welche Folgen hatte dieser Kulturschock für Sie?

Kuegler: Ich fühlte mich einsam. Vieles hat mir solche Angst gemacht, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können.

Bekanntheit hat „in mir sehr viel Angst ausgelöst“

Was haben Sie in Ihrer Zeit im Westen über sich gelernt?

Kuegler: Aus meiner Komfortzone zu kommen und klar und deutlich Nein zu sagen. Seitdem ich es tue, habe ich mehr Kontrolle über mein Leben und fühle mich nicht mehr so verloren.

Kueglers neues Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“, erscheint am 6. November.
Kueglers neues Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“, erscheint am 6. November. © Westend Verlag | Westend

2005 erschien Ihr Buch Dschungelkind. Es wurde ein Weltbestseller und in über 30 Sprachen übersetzt. Haben Sie den Ruhm genossen?

Kuegler: Nein, ich habe unter dem Ruhm gelitten. Dass ich überall erkannt wurde, hat in mir sehr viel Angst ausgelöst. Im Dschungel war mein Gehirn so programmiert worden, dass Sichtbarkeit Gefahr bedeutet.

Haben Sie manchmal Heimweh nach dem Dschungel?

Kuegler: Nur noch ganz selten. Ich habe jahrzehntelang nur mit dem Gedanken gelebt: Ich muss zurück in den Dschungel. Heute habe ich mich damit abgefunden, dass ich nicht mehr im Dschungel leben werde. Ich habe verstanden: Man muss die Vergangenheit loslassen, um voranzukommen.