Berlin. Sabine Kuegler ging in den Dschungel, um ein Mittel gegen ihre schwere Krankheit zu finden. Was nach ihrer Heilung im Urwald passierte.

Sabine Kuegler führt ihr Leben in zwei Welten: Geboren wurde sie in Nepal als Kind zweier Sprachforscher und Missionare. Später lebte sie mit ihren Eltern und Geschwistern jahrelang im Dschungel Indonesiens bei indigenen Stämmen. Im Alter von 17 Jahren kehrte sie nach Europa zurück und lebte lange Zeit im Westen, wo sie schließlich schwer erkrankte. Ihre letzte Rettung: die Rückkehr in den Dschungel, auf der Suche nach einem Heilmittel.

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Über ihr bewegtes Leben hat Kuegler den Weltbestseller „Dschungelkind“ geschrieben, nun folgt ihr zweites Buch: „Ich schwimme nicht mehr dort, wo die Krokodile sind“. Im zweiten Teil dieses Interviews erzählt die 50-Jährige von dem Jagdtrieb, den der Dschungel in ihr weckt und verrät, was indigene Völker dem Westen voraus haben.

Sie haben als Kind im Dschungel die Jagd mit Pfeil und Bogen gelernt. Nach Ihrer Heilung erwachte Ihr Jagdtrieb wieder. Über den Augenblick, nachdem Sie im Dschungel ein Wildschwein geschossen haben, schreiben Sie: „Völlig überwältigt sank ich auf den Boden, ich fühlte mich wie bei einem Orgasmus. Es war eine Art von Glück, das ich seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.“ Macht dieser Jagdtrieb Sie gefährlich?

Sabine Kuegler: Nein, ich habe gelernt, diesen Trieb zu kontrollieren. Und hier im Westen habe ich kein Bedürfnis, auf die Jagd zu gehen. Die Jagd gehört für mich nicht hier hin. Sie ist nicht Teil dieser Welt. Im Dschungel empfand ich kein Mitgefühl, wenn ich auf ein Tier geschossen habe, um es zu essen. Hier halte ich das Schreien von Schweinen in Todesangst nicht aus. Mir wird dann schlecht. Aber im Urwald habe ich dieses unbedingte Verlangen, auf die Jagd zu gehen, gespürt. Ich glaube, es ist eine ähnliche Sucht wie die Sucht nach bestimmten Drogen.

Sabine Kuegler (r.) im Alter von ungefähr sieben Jahren übt mit ihrem kleineren Bruder Christian und einem Fayu-Kind im Dschungel von West-Papua das Bogenschießen.
Sabine Kuegler (r.) im Alter von ungefähr sieben Jahren übt mit ihrem kleineren Bruder Christian und einem Fayu-Kind im Dschungel von West-Papua das Bogenschießen. © Westend Verlag | Privat

Das können westliche Kulturen von der indigenen Bevölkerung lernen

Haben Sie Erfahrungen mit Drogen?

Kuegler: Nein, ich habe nie Drogen genommen, weil ich immer instinktiv wusste, dass das für mich gefährlich sein würde. Aber ich habe bei der Jagd im Urwald oft einen Rausch erlebt, der einem fast übermenschliche Kraft für die körperlich extrem anstrengende Jagd gibt.

Was, meinen Sie, kann der Westen von indigenen Völkern lernen?

Kuegler: Zufriedenheit.

Sind die Menschen im Dschungel wirklich zufriedener?

Kuegler: Ja, denn ihr Glück hängt nicht davon ab, wie viel sie verdienen, was sie besitzen und welchen beruflichen Status sie haben, sondern von sozialen Verbindungen, einem guten Miteinander, von Familie und Freundschaften. Glück entsteht, wenn man sich im direkten Austausch Zeit füreinander nimmt. Das kann eine Kommunikation über WhatsApp niemals leisten. Darum sind viele Menschen im Westen sehr einsam. Im Dschungel gibt es zwar kaum Privatsphäre, aber dafür auch kaum Depressionen.

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„Ich halte diesen massiven Druck im Westen nicht mehr aus“

Was können die Menschen im Dschungel vom Westen lernen?

Kuegler: Die Stärkung der eigenen Identität, Austausch mit Außen und Entwicklung. Die weitgehende Aufgabe der eigenen Identität und die Ein- und Unterordnung in die Strukturen des Stammes führt dazu, dass sich die Kulturen kaum weiterentwickeln. Eine Gesellschaft, die sich komplett von äußeren Einflüssen abschneidet, ist wie Wasser, das nicht mehr fließt. Es verrottet. Eine Gemeinschaft, die sich abschottet, bleibt bestenfalls auf dem gleichen Stand stehen, im schlimmsten Fall stirbt sie. Wenn jedoch Individualität gefördert wird, führt das zu mehr Kreativität, Freiheit und Fortschritt.

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Sie kennen beide Kulturen. Welche finden Sie besser?

Kuegler: Die Frage kann ich nicht beantworten. Beide Kulturen haben ihre Vor- und Nachteile. Es gibt Tage, an denen ich nur denke: Ich will hier weg. Ich will zurück in den Dschungel. Ich kann nicht mehr. Ich halte diesen massiven Druck, diese ganze Bürokratie, dieses stressige Leben hier im Westen nicht mehr aus. Und dann gibt es Tage, an denen ich es hier wirklich sehr schön finde und alles genieße: Elektrizität, fließend heißes Wasser, Restaurants. Mit welcher Kultur man besser zurechtkommt, kommt darauf an, wo man programmiert wurde und wo man mehr Zeit verbracht hat. Ich komme mittlerweile in beiden Welten gut klar.

So schwer viel es ihr, sich im Westen zu integrieren

Hat die jahrelange Suche nach dem Heilmittel im Dschungel Ihnen geholfen, Ihre Depressionen zu überwinden?

Kuegler: Ich hatte einen Parasiten, keine Depression! Als ich in den Dschungel zurückkehrte, verschwand meine Zerrissenheit, ich hatte endlich wieder das Gefühl, atmen zu können, weil die Menschen dort dachten und fühlten wie ich und mich verstanden. Gleichzeitig habe ich begriffen, was mich nach vielen Jahren im Westen von ihnen trennte. So erkannte ich, wer ich wirklich bin und dass ich beide Kulturen in mir trage. Das gab mir die Möglichkeit, endlich erwachsen zu werden. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, auf dem Stand einer 17-Jährigen stehengeblieben zu sein. Mein Erwachsenwerden war die Voraussetzung für meine Integration und mein Glücklichwerden im Westen. Ich habe begriffen, wie es mir gelingen könne, mich in die westliche Kultur zu integrieren, ohne meine Dschungelidentität dafür komplett aufgeben zu müssen.

Wie gelingt Ihnen das?

Kuegler: Indem ich im Dschungel verstanden habe, dass ich im Westen frei bin. Beim Stamm gibt man durch die Einordnung in die Strukturen des Stammes viel Verantwortung und Freiheit ab. Das macht manches einfacher, schränkt aber auch stark ein. Für mich war es ein sehr schmerzhafter Prozess, den Umgang mit der Freiheit zu erlernen. Es ist vergleichbar mit Menschen, die lange im Gefängnis saßen und erst wieder begreifen und lernen müssen, mit der neugewonnenen Freiheit umzugehen.

Sabine Kuegler im Alter von ungefähr 33 Jahren mit Angehörigen des Fayu-Stammes im Dschungel von West-Papua.
Sabine Kuegler im Alter von ungefähr 33 Jahren mit Angehörigen des Fayu-Stammes im Dschungel von West-Papua. © Westend Verlag | Privat

„Ich arbeite daran, mir hier meinen eigenen kleinen Stamm aufzubauen“

Wovor haben Sie Angst?

Kuegler: Im Urwald hatte ich eigentlich nie Angst. Aber im Westen habe ich immer noch manchmal Angst vor neuen Situationen oder so banalen Dingen wie dem Überqueren einer Straße. Weil ich im Dschungel aufgewachsen bin, hat sich mein Gehirn anders entwickelt. Ich habe immer noch Schwierigkeiten, die Geschwindigkeit und Distanz von Autos abzuschätzen und bin immer froh, wenn ich es heil über die Straße geschafft habe. Auch Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen machen mir Angst. Gestern war ich in einem vollen Möbelhaus. Ich hatte sofort wieder das Gefühl, nicht atmen zu können.

Glauben Sie eigentlich an etwas Höheres?

Kuegler: Natürlich! Im Stammessystem gibt es keine Atheisten. Es ist für jeden Menschen ganz wichtig, an etwas zu glauben.

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Was gibt Ihnen Kraft?

Kuegler: Ich arbeite daran, mir hier meinen eigenen kleinen Stamm aufzubauen. Menschen, die mich verstehen und mich schützen. Das hatte ich im Westen nie, jetzt habe ich es endlich.