Berlin. Deutschland, Europa und die USA sind nicht darauf vorbereitet, was passiert, wenn der russische Staat zerfällt – das muss sich ändern.

Was war das? Da ist Jewgeni Prigoschin: Er wagt den Aufstand gegen seinen einstigen Förderer Putin. Er zieht mit seiner Söldner-Truppe Wagner ungehindert durch Russland, bringt den Flughafen von Rostow und Teile des Landes unter seine Kontrolle, lässt mindestens sechs russische Militärhubschrauber und ein Flugzeug abschießen, zieht weiter bis kurz vor Moskau – und willigt dann ein, ins Exil zu gehen.

Und da ist Wladimir Putin: Er nennt Prigoschin einen „Verräter“, spricht von einem „Stich in den Rücken“, von einer „tödlichen Bedrohung für Russland“, kündigt an, Prigoschin und seine Männer würden für den Aufstand „bezahlen“. Und dann genehmigt er eine Amnestie für die Aufständischen und lässt Prigoschin nach Belarus abziehen. Noch nie hat man Russlands Präsidenten so schwach gesehen.

Nichts ist mehr wie es war für Wladimir Putin

Dass Aufständische einfach so vorrücken können und niemand reagiert, ist ebenso erstaunlich wie die Einnahme von Rostow. Die Stadt ist kein Kuhdorf in der russischen Prärie, sondern eine Millionen-Stadt. Sie hat große Bedeutung als Logistikzentrum für die Versorgung des Donbass und ist südliches Hauptquartier der russischen Armee. Auch viele Einwohner zeigten sich erfreut. Sie versorgten die Söldner mit Brot und Wasser, einige jubelten.

Selbst wenn die Wagner-Truppe inzwischen wieder abgezogen ist: Der militärische Aufstand im eigenen Land war eine Demütigung für den Präsidenten, die nicht ohne Folgen bleiben wird. Derzeit sieht es zwar so aus, als sei der Aufstand abgewehrt und Prigoschin kaltgestellt, doch nichts ist mehr wie es war für Wladimir Putin. Der russische Machtapparat und die Gesellschaft verzeihen einiges – Schwäche der Führung aber nicht.

Der Geist ist aus der Flasche

Der Geist ist aus der Flasche, und er kehrt nicht dahin zurück. Auch der Putschversuch gegen Michail Gorbatschow scheiterte 1991 zunächst. Doch ein paar Monate später war es vorbei. Gorbatschow übergab den Koffer mit dem Code für die Atomwaffen an Boris Jelzin und die Sowjetunion war Geschichte.

Gudrun Büscher
Gudrun Büscher © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Putin selbst erinnerte in seiner Brandrede an 1917 – den Zerfall des Reichs mit enormen Gebietsverlusten. „Das Ergebnis war die Tragödie des Bürgerkriegs“, sagte er und zieht damit – erschreckend offen – eine Parallele zur Lage heute. Er deutet an, dass dem Staat der Zerfall drohen könnte. Was das in naher Zukunft bedeutet, ist unklar.

Putin selbst hat Russland und die eigene Herrschaft destabilisiert

Die Ukraine sollte sich nicht zu früh die Hände reiben. Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, er könnte sogar noch heftiger werden. Ein angeschlagener Putin, der sich in die Enge getrieben fühlt, kann noch unberechenbarer und gefährlicher werden als er es ohnehin schon ist.

Kein einziges der Probleme, die zu diesem Aufstand führten, ist gelöst. Möglich, dass Prigoschin bald einen „Unfall“ hat oder unheilbar krank wird. Russland war noch nie zimperlich im Umgang mit Verrätern und seinen Feinden. Aber auch das würde nichts ändern. Putin selbst hat Russland und die eigene Herrschaft destabilisiert. Und die Freude der Menschen über den Wagner-Einzug in Rostow zeigt, dass er offensichtlich auch viele Russinnen und Russen längst verloren hat.

Doch noch ist es zu früh für einen Abgesang auf den russischen Präsidenten. Es bleibt Zeit, eine Strategie für die Post-Putin-Ära zu entwickeln, wenn die Russische Föderation möglicherweise implodiert ist. Auf die Frage, was passiert, wenn Russland zerfällt und was dann zu tun ist, haben weder die Bundesregierung noch die EU, noch die USA bisher eine Antwort.