Berlin. Der Mindestlohn steigt auf 12,41 Euro. Kritikern reicht das nicht. Sie berufen sich auf ein EU-Gesetz. Doch es gibt dabei einen Haken.

Diese Zahl sorgt für Aufregung - besonders bei den Gewerkschaften: 12,41 Euro soll der gesetzliche Mindestlohn ab dem 1. Januar 2024 betragen, ab 2025 dann 12,82 Euro. Zu wenig, findet nicht nur der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke. Kritiker sind sich einig: Angesichts der weiterhin hohen Inflation in Deutschland kommt die Erhöhung bei den Beschäftigten nicht an. Im Gegenteil: Arbeitnehmer, die Mindestlohn beziehen, haben noch immer weniger Geld zur Verfügung als früher.

Verbesserungsbedarf sieht auch der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil. Er will sich dafür einsetzen, dass der Mindestlohn im kommenden Jahr auf bis zu 14 Euro angehoben wird. „Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland die europäische Mindestlohnrichtlinie im nächsten Jahr umsetzt“, erklärte er. Kern der Richtlinie ist, in den Mitgliedsstaaten eine höhere Tarifbindung zu erreichen und Empfehlungen für die Gestaltung des Mindestlohns an die Hand zu geben. Sie gilt seit Oktober 2022 und wurde von EU-Par­la­ment und Ra­t beschlossen. Die Bundesregierung muss diese Vorgabe bis Herbst 2024 in nationales Recht umsetzen.

Doch hat das EU-Gesetz wirklich mehr Einfluss als die unabhängige, deutsche Mindestlohnkommission? Dazu gehen die Meinungen auseinander. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages stellt in einem Papier aus dem Herbst 2022 klar, dass die EU-Richtlinie nicht in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung von Mindestlöhnen eingreift. In ihrer Ausarbeitung gehen die Juristen des Bundestags davon aus, dass die Richtlinie „keinen gesetzgeberischen Anpassungsbedarf auslöst, da die geltenden Bestimmungen des Mindestlohngesetzes (...) den Vorgaben bereits entsprechen“.

Wirtschaftsforscher: Lohnerhöhung auf mehr als 13 Euro

Anders sieht es die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Das Wirtschaftsinstitut der Böckler-Stiftung geht in einer 32-seitigen Kurzstudie davon aus, dass „die Kriterien der europäischen Mindestlohnrichtlinie nach wie vor nicht vollständig erfüllt“ sind. Demnach müsste der Mindestlohn in Deutschland umgehend auf 13,16 Euro oder sogar 13,53 Euro erhöht werden. Der jeweilige Wert errechnet sich anhand der Hälfte des Durchschnittslohns in Deutschland oder in Bezug auf 60 Prozent des Medianlohns der Bürger.

SPD-Chef Lars Klingbeil geht die bisherige Erhöhung des Mindestlohns nicht weit genug.
SPD-Chef Lars Klingbeil geht die bisherige Erhöhung des Mindestlohns nicht weit genug. © dpa | Andreas Arnold

Tatsächlich tauchen beide Werte in der europäischen Mindestlohnrichtlinie auf. Jedoch verwendet die EU sie nur als eine von vielen Möglichkeiten, die die Staaten einsetzen können, um ihren Mindestlohn auf ein akzeptables Niveau anzuheben. Außerdem findet sich in Artikel 1 der Richtlinie eine Einschränkung – und darin heißt es, dass die Richtlinie „nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen“ berührt.

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Für den Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, ist das Thema deshalb erledigt. Der Beschluss der EU habe „keine Rechtsänderung für das deutsche Mindestlohngesetz zur Folge“, so Kampeter. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) habe dies ausdrücklich bestätigt. Er teilt gegen SPD-Chef Klingbeil aus: „Versuche, die Mindestlohnfindung weiter parteipolitisch zu instrumentalisieren, stehen dem Geist des Mindestlohngesetzes entgegen. Populismus mit der Lohntüte führt lediglich zur Inflation“, sagte Kampeter dieser Redaktion.

Mindestlohn: Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung auf eigene Faust erhöht

Aus Heils Ministerium heißt es, nach vorläufiger Prüfung sehe man keinen Anpassungsbedarf in der deutschen Gesetzgebung. Hier hakt DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der den Gewerkschaftsbund in der Mindestlohnkommission vertritt, ein: „Das nationale Mindestlohngesetz muss zwingend nachgeschärft werden, so dass dem Anliegen der EU-Mindestlohnrichtlinie Rechnung getragen werden kann. Zudem muss die Verfahrens- und Arbeitsweise der Mindestlohnkommission selbst hinterfragt werden.“

Ganz abgeschlossen ist das Thema im Ministerium deshalb noch nicht. Bei den Abstimmungen zwischen EU-Parlament, Rat und Kommission habe die Richtlinie „zahlreiche Änderungen erfahren“, schreibt das Ministerium auf Nachfrage dieser Redaktion. Die EU-Kommission hat nun erstmal eine Expertengruppe eingerichtet. Heils Ministerium erwartet den Abschlussbericht bis Ende November 2023.

Sollte die Regierung letztendlich dem Drängen des SPD-Vorsitzenden und der Gewerkschaftsvertreter folgen, überginge sie das Votum der Mindestlohnkommission – und zwar schon zum zweiten Mal. Bereits im Oktober 2022 hatte die Ampel-Koalition auf eigene Faust den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht. Damit handelte sie entgegen eines Beschlusses der Kommission, die laut dem deutschen Mindestlohngesetz zuständig ist. Bei ihrer jüngsten Entscheidung im Juni 2023 waren sich die Mitglieder des Gremiums jedoch erstmals nicht einig gewesen. Die Mehrheit entschied, dass der Mindestlohn in Deutschland nur um 41 Cent erhöht wird. Kommissionsmitglied Körzell sagt, daraus müsse man Lehren ziehen. „Mit wirklichen Verhandlungen und einer austarierten Abwägung der unterschiedlichen Interessen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite hatte das nichts mehr zu tun“, sagte der DGB-Vertreter unserer Redaktion.

Bis Ende des Jahres müssen sich Mindestlohnbezieher in Deutschland auf jeden Fall gedulden. Erst dann ist klar, ob das Arbeitsministerium auf die 41 Cent noch einmal etwas drauflegt. Unterdessen bleibt die Inflation bei Ausgaben für Waren des alltäglichen Bedarfs weiter hoch.

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