Jerusalem. Als WHO-Beauftragter hat Sean Casey viele Krisen erlebt, doch die Lage in Gaza macht ihn fassungslos. Er sieht jetzt nur einen Ausweg.

Mehr als fünf Monate hat Sean Casey im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO im Gazastreifen verbracht, und seine Bilanz ist düster. „Ich habe in mehr als 20 Jahren Arbeit noch nie so eine rapide Verschlechterung der humanitären Lage gesehen“, sagt der 41-Jährige, der in seiner bisherigen Laufbahn in 45 verschiedenen Krisengebieten stationiert war – unter anderem im Irak, im Südsudan, in Haiti. Doch was er in Gaza erlebte, macht auch ihn fassungslos.

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Seit dem Terrorangriff und den Massakern der radikalislamischen Hamas in Israel am 7. Oktober greift die israelische Armee den Gazastreifen an. Für die etwa zwei Millionen Zivilisten dort gibt es kaum noch Schutz oder sichere Orte. Und nicht nur das. Die Lage in Gaza sei das Ergebnis einer Mischung aus drei Faktoren: „Extrem starker Anstieg an Kranken und Verwundeten, eine rasante Abnahme an verfügbaren Kliniken, und selbst die Kliniken, die es gibt, sind für viele einfach nicht erreichbar.“

Casey nennt ein Beispiel. Eine Mutter in der Stadt Khan Junis, die ihr an schwerem Durchfall und Dehydrierung leidendes Kleinkind untersuchen lassen möchte, „muss sich bewusst sein, dass sie ihr Leben und das Leben des Kindes aufs Spiel setzt, wenn sie in die nächste Klinik geht“ – Khan Junis steht unter schwerem Beschuss. Selbst, wenn die Mutter in der Klinik ankommt, muss sie damit rechnen, dass das Kind dort nicht behandelt wird. „Es gibt viel zu wenige Ärzte und Pfleger, und ihr ganzer Fokus liegt darauf, Menschen in akuter Lebensgefahr zu behandeln“, sagt Casey. Sollte die Mutter Glück haben und ein Arztgespräch bekommen, „dann wird sie große Probleme haben, die nötigen Medikamente zu finden“. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Rest der Familie sich ansteckt, ist hingegen sehr hoch, „da es am Zugang zu Hygiene und sauberem Wasser mangelt“.

WHO-Mitarbeiter im Gazastreifen: „In der Notaufnahme muss ich aufpassen, nicht auf Menschen zu treten“

Traditionell sei Gaza ein medizinisch gut versorgtes Gebiet, sagt Casey: „Es gibt relativ viele Krankenhäuser und gut ausgebildete Ärzte.“ Die meisten Ärzte sind heute aber selbst Binnenflüchtlinge, haben in den Luftangriffen ihre verloren und harren mit ihren Familien in Zelten im extrem überlasteten Gebiet nahe Rafah im Süden des Gazastreifens aus. „Sie sind den ganzen Tag damit beschäftigt, Nahrung und Wasser für ihre Familien zu finden und fehlen in den Krankenhäusern, die sie dringend benötigen.“ Die wichtigsten Krankenhäuser befinden sich im evakuierten Norden, sie sind so gut wie abgeschnitten von Strom, Nahrung und Medikamenten.

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Es war Caseys Aufgabe, den Nachschub zu koordinieren. Dafür musste ein komplexes Genehmigungsverfahren mit der israelischen Armee durchlaufen werden. „Manchmal waren unsere Lastwagen fertig beladen, aber jeden Tag wurde uns von Neuem die Genehmigung verweigert“, sagt Casey.

Ein verwundetes palästinensisches Kind wird im Abu Youssef Al-Najjar Krankenhaus in Rafah behandelt, nachdem die israelische Armee eine Moschee beschossen hat.
Ein verwundetes palästinensisches Kind wird im Abu Youssef Al-Najjar Krankenhaus in Rafah behandelt, nachdem die israelische Armee eine Moschee beschossen hat. © DPA Images | Mohammed Talatene

Der Besuch in den extrem überfüllten Krankenhäusern war auch für den erfahrenen Helfer wie ein Besuch in der Hölle. „Wenn ich in der Notaufnahme im Al-Shifa-Krankenhaus war, musste ich wirklich aufpassen, um nicht auf Menschen zu treten“, sagte Casey. „Schwerverletzte, die eigentlich auf der Intensivstation sein müssten, lagen dort und schrien vor Schmerz und Hunger.“ Auch die Ärzte und Pfleger litten unter dem extremen Mangel an Nahrung, sagt Casey.

UN-Angaben zu Gaza: Mehr als 70 Prozent der Verwundeten sind Frauen und Kinder

Die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen ist auch eines der zentralen Themen im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo Israel von Südafrika vorgeworfen wird, in Gaza das Verbrechen des Völkermordes zu begehen. Die israelischen Vertreter verteidigten sich vor dem Gericht, indem sie darauf hinwiesen, dass die Lage in Gaza in den vergangenen Wochen schrittweise gebessert habe, da Israel den Aufbau von Feldspitälern ermöglichte und mehr Hilfe in den Gazastreifen gelassen habe.

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Dieses Argument verwundert Casey. „Ich habe in den fünf Wochen nur Verschlimmerungen erlebt“, sagt der Experte. Die Feldspitäler hätten zwar ein paar Hundert zusätzliche Betten gebracht, um Patienten zu versorgen. Das sei aber viel zu wenig. „Was wir brauchen, sind Tausende Betten.“

Laut Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als 70 Prozent der Verwundeten Frauen und Kinder. Casey kann das nach seinen eigenen Beobachtungen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser nur bestätigen. Er habe sich mit den Patienten und den Eltern der verletzten Kinder unterhalten, „und ich hörte oft dieselbe Geschichte: Achmad wollte nur kurz im Hof spielen, sagt eine Mutter“ – und dann fehlt dem Jungen nach einem Angriff ein Bein. Das Kind kann angesichts des Mangels an Ärzten und erreichbaren Krankenhäusern nicht entsprechend versorgt werden „So viele Menschenleben und Gliedmaßen hätten gerettet werden können“, sagt Casey.

WHO-Experte zu Israel: Ein Waffenstillstand ist die einzige Option

Oft fehlt es an Strom, um Nierendialysemaschinen zu betreiben oder Operationssäle funktionstüchtig zu halten. In solchen Fällen entscheidet der Zufall, ob der Treibstoff gerade für den Betrieb der Stromgeneratoren ausreicht, über Leben und Tod. Für die wenigen Ärzte, die in den großen Krankenhäusern im Norden noch im Einsatz sind, sei das extrem frustrierend, sagt Casey. Ganz abgesehen davon, dass sie angesichts des regelmäßigen Beschusses selbst ihr Leben riskieren.

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Rafah hatte vor dem Krieg rund 270.000 Einwohner, heute leben dort eng gedrängt mehr als eine Million Palästinenser. „Die Menschen haben ihre Zelte wortwörtlich auf der Straße aufgeschlagen“, erzählt ein WHO-Mitarbeiter. 
Rafah hatte vor dem Krieg rund 270.000 Einwohner, heute leben dort eng gedrängt mehr als eine Million Palästinenser. „Die Menschen haben ihre Zelte wortwörtlich auf der Straße aufgeschlagen“, erzählt ein WHO-Mitarbeiter.  © Getty Images | Ahmad Hasaballah

Es gebe nur einen Weg, um die Katastrophe in Gaza zu lindern, sagt Casey: einen Waffenstillstand. Es reiche aber nicht, nur für ein paar Wochen die Kämpfe einzustellen, solange das Gebiet rund im Rafah weiter so überfüllt ist, dass Hilfe nicht verteilt werden kann. Rafah hatte vor dem Krieg rund 270.000 Einwohner, heute leben dort eng gedrängt mehr als eine Million Menschen, und es werden jeden Tag mehr. „Wenn man sich in Rafah fortbewegt, noch dazu mit einem LKW, kommt man kaum vorwärts, weil die Menschen ihre Zelte wortwörtlich auf der Straße aufgeschlagen haben“, erzählt Casey. Mancherorts wurden Pflastersteine aus den Straßen geschlagen, um damit Notbehausungen zu bauen. „Wir brauchen dringend eine Waffenruhe und wir brauchen endlich richtigen Zugang für humanitäre Hilfe“, sagt Casey. „Und wir brauchen es jetzt.“