Berlin. Nun also doch: Zwei der drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland sollen länger am Netz bleiben. Allerdings nur für den Notfall.

  • Wirtschaftsminister Habeck will zwei Akws als Notreserve zurückhalten
  • Sie sollen stundenweise bei Energieknappheit aushelfen
  • Die Entscheidung löst Kritik aus – nicht nur in der eigenen Partei

Unter dem Druck der massiven Energiekrise sollen zwei der drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende in Reserve gehalten werden. „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass es zu Krisensituationen und Extremszenarien kommen wird“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zur der Entscheidung. „Aber als Minister, der für die Versorgungssicherheit zuständig ist, tue ich alles, was nötig ist, um die Versorgungssicherheit vollumfänglich zu gewährleisten.“

Die beiden Meiler Neckarwestheim in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern sollen weiterhin zur Verfügung stehen, um „für den Notfall für den Winter 22/23 eine neue zeitlich und inhaltlich begrenzte AKW-Einsatzreserve“ zu schaffen, kündigte der Grünen-Politiker am Montagabend bei der Vorstellung des Ergebnisses eines Stresstests zur Stromversorgung in Deutschland im Winter an. Das dritte noch betriebene Atomkraftwerk Emsland soll wie geplant zum Jahresende endgültig vom Netz gehen.

Habeck: Am Atomausstieg halten wir fest

Das war ursprünglich auch für die Atomkraftwerke Neckarwestheim und Isar 2 vorgesehen – der deutsche Atomausstieg wäre damit besiegelt gewesen. „Am Atomausstieg, wie er im Atomgesetz geregelt ist, halten wir fest“, betonte Habeck am Montagabend. „Neue Brennelemente werden nicht geladen und Mitte April 2023 ist auch für die Reserve Schluss.“ Der Wirtschaftsminister fügte hinzu: „Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie und die hochradioaktiven Abfälle belasten zig nachfolgende Generationen.“

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Der von Habeck angeordnete Stresstest sollte der Debatte um den Nutzen eines Streckbetriebs eine belastbare Faktengrundlage geben. Zwar hatten die die Übertragungsnetzbetreiber schon im Frühjahr auf Bitten des Bundeswirtschaftsministeriums durchgerechnet, wie sich ein Gaspreis von 200 Euro pro Megawattstunde und eine geringere Stromproduktion der französischen Atomkraftwerke auf die Versorgungssicherheit in Deutschland auswirken würde.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, gibt in der Bundespressekonferenz die Ergebnisse des Stresstests zum Weiterbetrieb von Atomkraftwerken bekannt.
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, gibt in der Bundespressekonferenz die Ergebnisse des Stresstests zum Weiterbetrieb von Atomkraftwerken bekannt. © dpa | Kay Nietfeld

Stresstest: „Stundenweise krisenhafte Situationen“ im Winter nicht auszuschließen

Damals kamen die Rechnungen zu dem Ergebnis, dass ein Weiterbetrieb der drei Meiler im Streckbetrieb, also dem weiteren Betrieb mit den vorhandenen Brennstäben, keinen zusätzlichen Strom bringen würde. Und ohnehin, hieß es lange Zeit aus dem Wirtschaftsministerium, läge das Versorgungsproblem derzeit nicht bei Strom, sondern bei Gas. Andere Berechnungen, etwa vom TÜV Süd, kamen aber zu dem Schluss, dass die Atomkraftwerke durchaus zusätzlichen Strom liefern könnten.

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Als der Gas- und damit auch der Strompreis im Laufe des Sommers immer weiter stieg und sich die Situation der Atommeiler im Nachbarland zuspitzte, ließ Habeck ein weiteres Mal rechnen, unter noch verschärften Annahmen. Das am Montag veröffentlichte Fazit lautet nun, „dass stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können“.

Habeck: Haben eine hohe Versorgungssicherheit

Als Habeck die Ergebnisse vorstellte, betonte der Vizekanzler: „Wir haben in Deutschland eine sehr hohe Versorgungssicherheit im Stromsystem.“ Es gebe genug Energie in und für Deutschland. „Aber wir sind Teil eines europäischen Systems, und dieses Jahr ist in ganz Europa ein besonderes Jahr.“

Die Stromversorgung in Deutschland war Gegenstand eines neuen Stresstests.
Die Stromversorgung in Deutschland war Gegenstand eines neuen Stresstests. © picture alliance/dpa | Federico Gambarini

Der russische Angriff auf die Ukraine habe „zu einer angespannten Situation auf den Energiemärkten geführt“, sagte Habeck. In Frankreich falle derzeit rund die Hälfte der Atomkraftwerke aus. Die Dürre im Sommer habe außerdem die Wasserstände in Flüssen und Seen reduziert, was die Wasserkraft in Nachbarländern schwäche und auch in Deutschland den Transport von Kohle zu den Kraftwerken erschwere, die aufgrund der angespannten Versorgungslage mit Gas genutzt werden müssen.

Koalition muss jetzt handeln

„Wir haben also eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren, und der Sommer hat das mit der Trockenheit noch mal deutlich verschärft“, bilanzierte der Wirtschaftsminister. Unter bestimmten Umständen und in ganz bestimmten Situationen könnten sich diese Risiken bündeln. „Wegen all dieser Risiken können wir nicht sicher darauf bauen, dass bei Netzengpässen in unseren Nachbarländern genug Kraftwerke zur Verfügung stehen, die kurzfristig unser Stromnetz mit stabilisieren,“ sagte Habeck.

Damit die Kraftwerke Neckarwestheim und Isar 2 allerdings wirklich über den 31. Dezember hinaus Strom produzieren können, muss die Koalition jetzt handeln. Denn nach der derzeitigen Gesetzeslage ist mit dem Ende dieses Jahres Schluss mit Atomstrom aus Deutschland. Die Voraussetzungen dafür, dass die Kraftwerke in die Reserve gehen, muss der Bundestag jetzt die gesetzliche Grundlage ändern.

Stress in der Ampel - Grüne unter Druck

Die Koalition ist in der Frage tief gespalten. Während SPD und Grüne selbst den Notbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland lange ablehnten, sprach sich die FDP sogar für eine Weiternutzung der Atomkraft für mehrere Jahre aus. „In diesen Zeiten sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, den Strompreis für die Menschen und die Betriebe zu reduzieren“, sagte FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner noch am Montag der „Süddeutschen Zeitung“. „Das ist aus meiner Sicht ein wirtschaftspolitischer Stresstest, der neben dem energiepolitischen Stresstest auch eine Rolle spielen muss.“

Zum politischen Problem könnte die nun erfolgte Entscheidung vor allem für Habecks Partei werden: An der Grünen-Basis regte sich schon vor Montag Widerstand gegen die Idee einer Laufzeitverlängerung, egal ob im Streckbetrieb oder darüber hinaus. „Die Diskussion um die Verlängerung rüttelt an den Grundfesten unserer Partei“, heißt es in einem Antrag für den kommenden Parteitag im Oktober. „Die Überwindung der Kernkraft gehört zum Zentrum unserer Programmatik.“

CDU kritisiert Weiterbetrieb von nur zwei Akw

Über einen Weiterbetrieb auch nur eines Meilers müsse deshalb ein Parteitag entscheiden. Andere Mitglieder gehen noch weiter und lehnen jede Form des Weiterbetriebs kategorisch ab. Grüne Spitzenpolitiker und -politikerinnen hatten sich zuletzt zurückhaltend geäußert, was eine mögliche Laufzeitverlängerung für wenige Monate betrifft.

Die CDU kritisierte die Entscheidung für einen „Notbetrieb” von nur zwei Kernkraftwerken. „Statt mit einem Weiterbetrieb sicherer Kernkraftwerke über das Jahresende hinaus jetzt wirklich alle Potenziale zu nutzen erhöht die Ampel mit dem vorgeschlagenen Stotterbetrieb an zwei Standorten und dem gänzlichen Abschalten des dritten Kraftwerks das Risiko eines Energienotstands im Winter“, sagte der CDU-Vizechef Andreas Jung unserer Redaktion.

CDU-Generalsekretär Mario Czaja sagte unserer Redaktion:„Bei den Grünen gilt offenbar weiter: Erst die Partei, dann das Land – auch wenn das Risiko steigt, dass die Lichter ausgehen.“ Bürger und Unternehmen müssten „teuer für den grünen Ideologie-Starrsinn bezahlen, im Winter droht ein Blackout“, warnte Czaja. Nur wenn alle drei noch laufenden Kernkraftwerke am Netz blieben, sei die Stromversorgung sicher.

Die Wirtschaftweise Veronika Grimm kritisierte die Ankündigung Habecks als unzureichend. "Die Kraftwerke sollten laufen und nicht nur in Bereitschaft sein, wie es aktuell geplant ist - denn nur dann gibt es einen senkenden Effekt auf den Strompreis", sagte Grimm unserer Redaktion. "Bei den drei noch laufenden AKWs sollte man über eine Laufzeitverlängerung von 5 Jahren nachdenken. Auch sollte geprüft werden, ob die Kernkraftwerke reaktivierter sind, die kürzlich erst stillgelegt wurden."

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kritisierte Habecks Vorhaben gegen die wachsende Kritik. Er halte Habecks Entscheidung für „richtig und angemessen“, sagte Kretschmann dieser Redaktion. „Denn besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.“

Oberste Priorität habe die Versorgungssicherheit im kommenden Winter, vor allem mit Blick auf die Netzstabilität, betonte Kretschmann. „Mit dem Stresstest steht jetzt fest, dass es sinnvoll und notwendig ist, Vorbereitungen für einen möglichen Streckbetrieb der beiden Süd-Atomkraftwerke Neckarwestheim und Isar zu treffen. Damit können jetzt auf die notwendigen Schritte in die Wege geleitet werden und gleichzeitig wird dafür Sorge getragen, dass die Sicherheit für Mensch und Umwelt garantiert ist.“

Der Ministerpräsident hob aber auch hervor: „Damit wird der Atomausstieg keinesfalls infrage gestellt.“

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.