Holger Zaumsegel über Probleme des Sports von gestern und heute

Eine Olympiasiegerin im Kugelstoßen, die ein Mann war? Die olympische Sporthistorie treibt seltsame Blüten und jene Spekulation um das Geschlecht der Press-Schwestern aus der damaligen Sowjetunion ist so eine.

Im Kalten Krieg wurde von der westlichen Presse besonders Tamara ins Visier genommen, die 1960 in Rom im Kugelstoßen und 1964 in Tokio im Kugelstoßen und Diskuswurf Olympiasiegerin wurde. Die augenscheinlichen „Press-Brüder“ hätten nach Meinung der Medien aus dem „kapitalistischen Ausland“ bei den Herren antreten müssen. Als sich die aus der Ukraine stammenden Tamara und Irina Press 1966 – nachdem Tests zur Bestimmung des Geschlechts für Athletinnen auf internationaler Bühne verpflichtend wurden – dann auch noch aus dem Leistungssport zurückzogen, sahen viele Medienvertreter ihren Verdacht als bestätigt an. Das bestreitet die heimische Presse der Sportlerinnen übrigens bis heute.

Auch wenn die aktuelle russische Dopingproblematik ganz andere Aspekte aufweist, wird es über 50 Jahre später auch keinen Konsens geben. Die Menschheit hat zurück zum Blockdenken gefunden. Auf der einen Seite stehen wir, auf der anderen die Bösen. Deshalb wird und kann der russische Dopingskandal in seiner Gänze nie aufgearbeitet werden, weil er zumindest von Russland als politisch motiviert betrachtet wird und auf russischer Seite gar keine Motivation für eine Aufarbeitung besteht.

Der „böse Russe“ wird jetzt mancher sagen. Doch der „böse Russe“ registriert zum Beispiel auch, dass ein Christian Coleman aus den USA in diesem Jahr in Doha Sprintweltmeister wurde, obwohl er binnen eines Jahres drei Dopingtests verpasst hat, wofür er gesperrt hätte werden müssen. Ach ja, der eine Test, der am 6. Juli 2018 nicht stattfand, wurde nachträglich auf den 1. April 2018 korrigiert, was die US-amerikanische Anti-Doping-Agentur (Usada) natürlich billigte. Damit hatte Coleman nur zwei Tests binnen eines Jahres verpasst, durfte starten, holte Gold.

Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Hat die Usada zugunsten eines Medaillenkandidaten aus dem Heimatland Gnade vor Recht ergehen lassen? Natürlich nicht, werden empörte Funktionäre jetzt sagen. Beide Problematiken seien in keiner Weise miteinander vergleichbar. Stimmt wahrscheinlich. Verglichen werden sie, zumindest von den betroffenen Ländern, dennoch. Und genau das führt auch zu den verzerrten Wahrnehmungen, je nachdem, wo auf dem Globus man sich gerade befindet.

Die Regularien, die zu einem fairen Wettstreit führen sollen, werden höchst unterschiedlich interpretiert. Das entschuldigt die russischen Machenschaften nicht, wird aber weiter für Unruhe sorgen.

Leidtragender ist der Sport in seiner Gesamtheit. Warum? Weil das, was eigentlich verbinden soll, seinen Teil zur Spaltung beiträgt. Korrumpierte Vergaben von Großereignissen sowie ein Dopinggeneralverdacht über ganze Nationen oder teilweise sogar ganze Sportarten führen den olympischen Gedanken schon seit vielen Jahren ad absurdum.

Ohne Frage besteht dringender Handlungsbedarf. Doch wo ansetzen, wenn nicht einmal Einigkeit bei allen Beteiligten über den zu verwendenden Hebel besteht?

Zudem haben sich mächtige Organisationen wie das Internationale Olympische Komitee oder der Fußball-Weltverband Fifa als Vermittler disqualifiziert, da sie mehr als einmal bewiesen haben, dass ihnen Geld tausendmal wichtiger ist als das Eintreten für sportlich faire Prinzipien.

Was bleibt uns als Sportfans? Vielleicht nur die Erinnerung an die „schönen Tage“, als sich die Diskussion über den Sport neben den gezeigten Leistungen nur um das mutmaßliche Geschlecht der Athleten drehte.