Zum Tag der Deutschen Einheit haben wir einen Kollegen aus Jena und eine Kollegin aus Essen befragt. Beide waren bei der Wiedervereinigung noch sehr jung. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für sie?

Anika Bloemers wurde am 29. Juli 1990 in Kamp-Lintfort geboren und wuchs wenige Kilometer entfernt im kleinen niederrheinischen Dörfchen Rheurdt auf. Sie bestritt ihr Bachelor- und Masterstudium in Geschichte und Anglistik in Bochum zwischen 2010 und 2016. Von 2017 bis 2018 absolvierte sie ihr Volontariat bei der Funke-Mediengruppe. Seitdem ist sie Redakteurin, erst in den NRZ-Lokalredaktionen Oberhausen und Mülheim an der Ruhr und jetzt in der Titelredaktion in Essen.

Norman Börner wurde am 27. Oktober 1986 in Eisenach geboren. Seine frühste Kindheitserinnerung ist der Stau am Grenzübergang Wartha-Herleshausen nach der Grenzöffnung. Von 2007 bis 2014 studierte er in Jena Politikwissenschaft. Es folgte von 2016 bis 2018 das Volontariat bei der Mediengruppe Thüringen sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule Berlin. Seit 2018 ist er Redakteur in der Lokalredaktion Zeulenroda-Triebes.

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Feiern Sie den Tag der Deutschen Einheit?

A.B.: Der Feiertag fällt ja in diesem Jahr auf einen Samstag, ich habe also ohnehin frei – und dazu noch Urlaub. Wir werden bestimmt abends auf die Einheit anstoßen, auf diesen Sieg der Freiheit, und wollen unbedingt die neue, vierteilige Netflix-Doku „Rohwedder“ weiterschauen, die von den Brüchen und Umbrüchen der Einheit und vom bis heute nicht aufgeklärten Mord an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder erzählt. Wer sich fragt, warum 31 Jahre nach dem Mauerfall noch immer nicht alle Gefühle des Misstrauens zwischen Ost und West verschwunden sind, sollte sich diese Serie unbedingt ansehen.

N.B.: Feiern wäre zu viel gesagt, da das Schwenken von Deutschlandfähnchen für mich persönlich einfach nicht zum guten Ton gehört. Allerdings wäre es auch verkehrt, den Feiertag als unreflektierte Deutschtümelei zu verstehen oder ihn komplett zu boykottieren. Denn die Feier der Wiedervereinigung ist weitaus mehr als ein Tag patriotischer Selbstbeweihräucherung. Vielmehr ist er ein wichtiger und entscheidender Fixpunkt der deutschen Geschichte, an dem Freiheit und Menschenrechte gewonnen habe. Umso trauriger finde ich es, dass diese Werte heute in Teilen Ostdeutschlands mit Füßen getreten werden.

Woran merken Sie, dass Sie im Osten oder Westen sind?

A.B.:Sofort merke ich das nicht und dann höchstens an kleinen Dingen, zum Beispiel am Dialekt. Und dass alles tendenziell ein bisschen günstiger ist im Osten. Ansonsten ist es aber auch in Nordrhein-Westfalen von Region zu Region, von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich, so dass es schwerfällt, einen Ost-West-Unterschied herauszufiltern. Wobei ich schon finde, dass im Osten viele Städte auffällig schön restauriert sind. Und es ist vielleicht nicht überall so: Aber die Straßen sind wirklich viel besser als so manche Autobahn im Ruhrgebiet.

N.B.: Erstmal glaube ich, dass sowohl der Osten als auch der Westen weltanschaulich und kulturell nicht über einen Kamm geschert werden können. So macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ich mich in Bayern oder Hamburg respektive in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern aufhalte. Wobei der Osten letztlich, glaube ich, mehr Sinn für gemeinsame Identität hat als der Westen. Was natürlich mit der Ideologie der Vorwendezeit aber auch mit den negativen Erfahrungen in der Periode nach dem Mauerfall zusammenhängt. Dieser positive Selbstbezug auf die Herkunft ist im Osten stärker ausgeprägt.

Spielt das Ost-West-Denken für Sie im Alltag überhaupt noch eine Rolle?

A.B.: Für mich persönlich spielt es keine Rolle und auch für kaum jemanden aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ehrlich gesagt, begegnet mir das Thema aber auch wirklich selten. Für andere Menschen im Westen, die diese Zeit miterlebt haben, spielen die Unterschiede aber manchmal durchaus noch eine Rolle. Da hört man auch ab und zu noch die gängigen Vorurteile gegenüber Ostdeutschen heraus. Ich habe aber das Gefühl, dass diese Ressentiments weniger werden und vielleicht in ein oder zwei Generationen nicht mehr das Trennende, sondern nur noch das Einende im Vordergrund steht.

N.B.: Wenn es um die differenzierte Beurteilung von Menschen geht, glaube ich das weniger. Was mir allerdings auffällt: Wenn ich mit Freunden oder Kollegen im Westen bin, dann kokettieren wir schon gerne mit unserer Rolle als Ostdeutsche. Wir reden dann öfter mit Ostthüringer Dialekt und es macht auch Spaß, sich als Ossi ein bisschen in einer Freischnauze und Underdog-Rolle zu bewegen. Das ist zwar auch ein bisschen ironisch gemeint, aber ich würde schon sagen, dass diese für mich positiv besetzen Aspekte des OssiSeins Teile meiner Identität sind, mit denen man sich auch von anderen Gruppen abgrenzt.

Welche Vorurteile kennen Sie über den Osten oder Westen? Sind manche sogar zutreffend?

A.B.: Ostdeutsche meckern immer nur, wählen die AfD, haben kein Demokratieverständnis, und durch den Soli hat der Westen den Osten nach der Wende wiederaufgebaut. Das fasst die Vorurteile, die ich bislang so gehört habe, ganz gut zusammen, wobei das natürlich pauschale Aussagen sind, die – wie das Beispiel Solidaritätszuschlag zeigt – falsch sind und von Unwissen zeugen. Ich erlebe öfter, dass manche Menschen aus den westdeutschen Bundesländern bisher kaum je im Osten gewesen sind. Da wünsche ich mir, dass sich das ändert, weil sich Vorurteile durch mehr Begegnungen definitiv schneller abbauen lassen.

N.B.: Das bekannteste Klischee über westdeutsche Mitbürger ist ja der „Besser-Wessi“. Also die Wahrnehmung, Westdeutsche würden sich der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber besserwisserisch und arrogant verhalten. Ich muss zugeben, dass ich innerlich diesen Fluch schon ausgestoßen habe und mich an manchen „Besser-Wessi“ erinnern kann. Aber Vorurteile sind ja auch so stabil, weil sich das Gehirn vornehmlich jene Begegnungen merkt, in denen sie zutrafen. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich womöglich genauso viele besserwisserische Ossis getroffen. Vielleicht sollte ich einfach weniger Besserwisser treffen.

Welche Sichtweisen auf die DDR kennen Sie aus dem Verwandtenkreis und dem Elternhaus?

A.B.: Ich habe keine Verwandten, die in der DDR gelebt haben. Meine Eltern haben mir erzählt, dass die Teilung für sie als junge Erwachsene im Alltag oft nicht so eine große Rolle gespielt hat, auch weil sie eben keine Verbindungen in die DDR hatten. Willy Brandts Ostpolitik und einige besonders spektakuläre Fluchtversuche sind ihnen aber auch heute noch präsent. Ihr Interesse hat sich sehr verstärkt, nachdem meine Mutter 1985 mit dem Lehrerseminar in Weimar und Erfurt gewesen ist. Als die Mauer fiel, wollten sie unbedingt in den Osten und sind einen Monat später direkt nach Rostock und Wismar gefahren.

N.B.: Mein Papa hatte Westverwandtschaft. Aus den Geschichten weiß ich, dass meine Eltern immer eine gewisse Sehnsucht nach westlichem Konsum und Kultur hatten. Es gab auch die andere Perspektive: Es war nicht alles schlecht und jeder hatte Arbeit. Mein Vater war nach der Wende im Bau angestellt. Oft war die Bezahlung mies und schlechter als einige Kilometer weiter im Westen. Meine Mutter war nach der Elternpause arbeitslos. Es schimmerte manchmal die Sehnsucht nach den sicheren DDR-Verhältnissen durch. Von der Ideologie hielten sie nichts: In der Schule Pflicht, wurde aber nicht wirklich ernst genommen.

Kann der Westen heute noch was vom Ostenlernen – und umgekehrt?

A.B.: Da fällt mir sofort das Stichwort Kinderbetreuung ein. Eltern in den ostdeutschen Bundesländern haben viel bessere Chancen, früher wieder in Vollzeit in den Beruf einzusteigen, als das im Westen der Fall ist. Ich habe mir mal die genauen Zahlen angeschaut: In Ostdeutschland werden durchschnittlich 51,5 Prozent der Unter-Drei-Jährigen tagsüber betreut. Da besteht im Westen und gerade in NRW definitiv Nachholbedarf: Hier liegt die Ganztagsbetreuungsquote bei nur 27,2 Prozent. Es fehlen einfach immer noch ganz viele Kita-Plätze.

N.B.: Im Westen sind Menschen mit Migrationshintergrund besser integriert. Außerdem gibt es eine breitere gesellschaftliche Front gegen Fremdenfeindlichkeit. Ich schäme mich manchmal für den Osten, wenn Gruppen wie Pegida ihren Rassismus auf die Straße tragen. Grundsätzlich trauen sich die Rechten im Osten eher, ihre Gesinnung offen zur Schau zu stellen. Dabei sind diese Einstellungen im Westen ebenfalls vorhanden. Es gibt aber einen größeren Grundkonsens, offenen Rassismus abzulehnen. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen im Osten deutlicher zeigen, wo die Grenzen der Meinungsäußerung liegen.