Erfurt. Der Kampf um die Wahlkreise wird diesmal knapp in Thüringen. Neben der Linken könnten auch AfD und Grüne die Union besiegen.

Knapp drei Monate vor der Landtagswahl am 27. Oktober bleibt ungewiss, welche Mehrheiten dann möglich sind. Nur eines scheint sicher: Es wird ein knappes Ergebnis mit bestenfalls knappen Mehrheiten – und dies nicht nur im Parlament insgesamt, sondern auch in vielen Wahlkreisen.

Wie sich schon bei der Bundestagswahl 2017 zeigte, haben die bislang zumeist siegreichen Kandidaten der CDU jetzt deutlich mehr aussichtsreiche Konkurrenten. Dies bekräftigt das Ergebnis der aktuellen Umfrage von infratest-dimap im Auftrag des MDR besonders eindrücklich. Hier führt erstmals die Linke mit 25 Prozent vor der AfD mit 24 Prozent. Die CDU kommt mit 21 Prozent nur noch auf Platz 3. Die Grünen sind auf Platz 4 mit elf Prozent, derweil die SPD auf acht Prozent abrutscht. Die FDP steht weiterhin bei fünf Prozent.

Damit dürften die meisten Wahlkreise zwischen der CDU und der Linken aufgeteilt werden – und erstmals auch der AfD. Schon bei der Bundestagswahlwahl und zuletzt bei der Kommunalwahl im Mai befand sich die Partei in Ostthüringen, Südostthüringen und einzelnen Regionen wie dem Ilm-Kreis auf Augenhöhe mit der Union.

Aus Sicht von AfD-Landeschef Stefan Möller sind nach bisherigem Stand bis zu 15 Direktmandate für seine Partei möglich. Dabei, sagt er, ziele man vor allem auf ländliche Gegenden, aber auch auf die Plattenvororte der Städte wie Gera-Lusan oder Erfurt-Nord.

Sind die Wahlkreise überhaupt für die Parteien wichtig?

Die Zahl hat sich Möller vom Internetportal wahlkreisprognose.de geborgt, das der Berliner Wirtschaftsinformatik-Student Valentin Blumert betreibt. Danach würde die CDU mehr als die Hälfte ihrer 34 Direktmandate verlieren und nur noch 16 Wahlkreise gewinnen – knapp gefolgt von der AfD mit 15 (bisher null). Die Linke bekäme elf Direktmandate (bisher neun). Die SPD würde ihren einzigen Wahlkreis in Gotha verteidigen, derweil die Grünen in Weimar erstmals ein Direktmandat gewännen. Auch in Jena erscheint ihr Sieg möglich.

Blumerts Kalkulationen beruhen auf früheren Wahlergebnissen in Bund, Land, Europa und den Kommunen sowie den aktuellen Umfragen – wobei die neueste Erhebung von infratest-dimap noch nicht eingepreist ist. Darüber hinaus wird die Popularität der Direktkandidaten, sofern sie denn gemessen wird, mit berücksichtigt. So ist für den Meinungsforscher völlig klar, dass der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow dank seines deutlichen Amtsbonus seinen früheren Wahlkreis in Erfurt-Süd wieder zurückerobern wird.

Doch sind die Wahlkreise überhaupt für die Parteien wichtig? Vor der Beantwortung dieser Frage erscheint ein kurzer lexikalischer Ausflug sinnvoll: Bekanntlich hat jeder Wahlberechtigte bei der Landtagswahl zwei Stimmen. Mit der Erststimme wird der Abgeordnete im Wahlkreis bestimmt. Es gibt 44 Wahlkreise, damit also 44 direkt gewählte Landtagsmitglieder.

Entscheidend für die Aufteilung aller Sitze im Parlament ist allerdings die Zweitstimme, mit der die Parteien oder Wählervereinigungen gewählt werden. Um dies zu erreichen, werden weitere 44 Mandate mit Kandidaten nach der Reihenfolge ihrer Parteilisten besetzt, bis die entsprechende Verteilung erreicht ist.

Bedeutung der Erststimmen ist gewachsen

Und: Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihr laut dem Zweitstimmenergebnis zustehen, erhält sie sogenannte Überhangmandate – wofür dann wiederum die Konkurrenz entsprechend viele Ausgleichsmandate erhält. Weil die CDU vor fünf Jahren bei den Erststimmen etwas besser als bei den Zweitstimmen abschnitt, hat der aktuelle Landtag nicht 88, sondern 91 Abgeordnete.

Die Bedeutung der Wahlkreise für die Parteien ergibt sich somit vor allem aus zwei Gründen. Erstens lassen sich hier die Wähler mit persönlicher Ansprache mobilisieren. Oft genug gibt es eine Wechselwirkung zwischen Erst- und Zweitstimme: So zieht in der Regel ein starker Direktkandidat auch das lokale Parteiergebnis zumindest etwas nach oben. Darüber können Ausgleichsmandate zumeist den Vorteil möglicher Überhangmandate nicht vollständig egalisieren. Bei sehr knappen Mehrheitsverhältnissen könnte also das Erststimmenergebnis durchaus über die Zusammensetzung einer künftigen Koalition entscheiden.

Doch wer weiß das schon. Gewiss ist bisher nur die Ungewissheit – und dass Thüringen auch in den Wahlkreisen vor einer tiefen, ja historischen Zäsur steht. Hatte doch die CDU bisher stets als die mit Abstand stärkste Landespartei auch die mit Abstand meisten Direktmandate gewinnen können. Im Jahr 1999, als die Union bei den Zweitstimmen mehr als 50 Prozent bekam, waren es sogar alle 44.

Die meisten anderen Parteien, auch die größeren, wirkten deshalb in der Vergangenheit im Kampf um die Wahlkreise zuweilen nicht sonderlich motiviert. Doch das gilt nicht mehr in Zeiten, in denen aus Sicht von Valentin Blumert vor allem lokal „alles möglich“ ist.

Auch nach Einschätzung von Hermann Binkert, dem Chef des Erfurter Meinungsforschungsinstituts insa, ist die Bedeutung der Erststimmen gewachsen. „Einen Wahlkreis direkt zu gewinnen, stärkt nicht nur das Prestige der direkt gewählten Abgeordneten“, sagt er. „So ein Sieg dokumentiert auch die relative Stärke der Parteien.“