Martin Debes zu Wahlen und anderen Intrigen.

Es war vor zehn Jahren, am 30. Oktober 2009, als Christine Lieberknecht im Landtag für das Amt der Ministerpräsidentin kandidierte. Hinter ihr lag ein zweimonatiges Drama mit Intrigen, Kabalen und Wendungen, wie es sich ein neuzeitlicher Shakespeare aus, sagen wir: Ramsla, nicht grotesker hätte ausdenken können.

Der CDU waren, dies erinnert an aktuelle Geschehnisse, etwa 12 Prozentpunkte bei der Landtagswahl abhandengekommen. Die Dekade des Absolutismus endete, die selbst ernannte Thüringenpartei benötige einen Koalitionspartner – und das konnte, rechnerisch wie politisch, nur die SPD sein.

Doch die Sozialdemokraten, insbesondere jene an der Basis, tendierten zu Linken und Grünen. Schließlich reichte es auch für eine rot-rot-grüne Mehrheit. Das Problem war nur, dass die SPD eine Regierung unter einem linken Ministerpräsidenten ausgeschlossen hatte und dass die Linke wieder deutlich vor ihr gelandet war.

Dies führte in den Sondierungsgesprächen zu den merkwürdigsten Verrenkungen. Der Linke Bodo Ramelow verzichtete auf das Amt, sagte aber, dass es auch nicht SPD-Chef Christoph Matschie werden dürfe, worauf wackere Sozialdemokraten wie Gesine Schwan oder, auch das ist eine hübsche Parallele ins Jetzt, ein gewisser Wolfgang Tiefensee für den Regierungsvorsitz gehandelt wurde.

Die CDU versank derweil im Chaos. Ministerpräsident Dieter Althaus trat zurück und kehrte wieder, derweil sich Mike Mohring und Christine Lieberknecht wie die Diadochen fetzten. Am Ende setzte sich Lieberknecht durch, übernahm den Parteivorsitz und führte die Verhandlungen mit der SPD mit einer simplen Strategie: Sie gab der geschätzten Sozialdemokratie fast alles, was sie wollte.

Die SPD-Spitze hatte damit zwischen einer rot-rot-grünen Experimentieranordnung nebst Import-Ministerpräsidenten oder einer Wohlfühlkoalition unter Lieberknecht zu wählen. Zumindest jenen, die Ämter besetzen durften, fiel die Entscheidung leicht.

Und so stand es an jenem grauen Oktobermorgen vor zehn Jahren die Wahl des Ministerpräsidenten auf der Tagesordnung. Einzige Kandidatin war Lieberknecht, zur Koalition aus CDU und SPD gehörten 48 Abgeordnete.

Das wirkte in Anbetracht von 88 Landtagsmitgliedern wie eine stabile Mehrheit. Doch im ersten geheimen Wahlgang kam Lieberknecht nur auf 44 Ja-Stimmen, das war eine zu wenig. Im zweiten Versuch wiederholte sich die Pleite. Es musste, dafür sprach jedenfalls alle Logik, mindesten vier Abweichler bei CDU oder SPD geben, wobei die Betonung auf CDU lag.

So etwas hatte es so noch nicht in Thüringen gegeben – war aber freundlicherweise in der klugen Landesverfassung vorbeugend eingepreist. Dort steht in Artikel 70, Absatz 3: „Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt. Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“

Das heißt, Lieberknecht genügte im dritten Versuch die relative Mehrheit der Stimmen. Dabei, so stellte es jedenfalls später der Verfassungsrechtler Martin Morlok fest, sei es völlig egal, ob es vielleicht mehr Nein-Stimmen oder Enthaltungen gibt: „Die meisten Stimmen“ heiße die meisten Ja-Stimmen – und nichts anderes.

An dieser Stelle entschied sich Bodo Ramelow spontan. Er trat gegen Lieberknecht an, wohl wissend, dass er keine Mehrheit bekommen würde – Lieberknecht aber umso eher. Denn nun stimmten CDU, SPD und sogar die FDP geschlossen für die CDU-Kandidatin, die nun 55 Stimmen hatte.

Warum das alles von Bedeutung ist? Weil, in einigen Wochen oder Monaten, der Landtag auf diese Weise den nächsten Ministerpräsidenten wählen dürfte, im dritten Wahlgang, mit wie vielen Stimmen auch immer. In einem Land ohne politisch realisierbare Mehrheiten ist dies der wahrscheinlichste Weg in eine Minderheitsregierung.

Dann könnte also Mike Mohring, der seit 2014 CDU-Chef ist, gegen Ramelow antreten, der seitdem als Ministerpräsident amtiert. Vielleicht lässt er es als Wahlverlierer aber auch lieber.

Christine Lieberknecht wird nicht mit abstimmen. Sie verlässt nach 28 Jahren den Landtag. Wer sie kennt, darf getrost mutmaßen, wem sie das Ministerpräsidentenamt wünscht.