Frank Quilitzsch fragt, wie „systemrelevant“ wir alle miteinander sind.

Nachts wache ich schweißgebadet auf und frage mich: Bin ich systemrelevant? Ich tappe grübelnd in der Schlafstube herum, bis K. murmelt: Leg dich wieder hin, du bist doch Journalist.

In der Tat öffnet mir mein Journalistenausweis so manche Tür. Er berechtigt zu Fahrten in Quarantänegebiete, und ich könnte – nur zu Recherchezwecken natürlich – sogar Corona-Partys besuchen, aber wäre das systemrelevant?

Ich liebe Wörter, die wie aus dem Nichts auftauchen und von einem Tag zum andern von allen nachgeplappert werden. Diese und jene Berufsgruppe, sagt mir der tägliche Corona-Ticker, sei „systemrelevant“. Soll wohl heißen, sie sind nötig, um das System aufrechtzuhalten. Dazu zählen die regierenden Volksvertreter neben Ärzten, Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleuten, Kassiererinnen und Müllfahrern stillschweigend auch sich selbst. Und die Übrigen?

Was ist eigentlich das Gegenteil von systemrelevant? Nachrangig? Weniger wichtig? Verzichtbar?

Pfleger sind systemrelevant, Pflegefälle dagegen nicht.

Virologen sind – seit Kurzem – systemrelevant, Ornithologen eher nicht. Es sei denn, die Vogelgrippe bricht wieder aus.

Was ist mit den Gynäkologen, Hebammen und Psychiatern? Mit Lehrern, Sozialarbeitern, Künstlern und Therapeuten? Und muss man nicht auch fragen: Welches System?

In der DDR waren vor allem SED-Mitglieder und Blockflöten systemrelevant. Und neben der Presse, der Volkspolizei und Stasi die überwältigende Schar der Mitläufer. Pfarrer, Punks und Bausoldaten galten als systemkritisch.

Und wenn man noch weiter zurückschaut, lernt man, wie Blockwarte, Volksgerichte, Volksschullehrer und letztlich sogar das Schweigen des Papstes das NS-System am Laufen hielten.

Auch wenn uns das in der jetzigen Krise nicht weiterhilft, sollte man, wie ich finde, bei der Wortwahl umsichtiger sein. Kein Mensch, sagt das Grundgesetz, ist relevanter als ein anderer. Aber da wir schon mal dabei sind, wage ich die These: Theater, Kinos, Kneipen, Fußballstadien und Vereinshäuser sind systemrelevant. Wenn die nicht bald wieder öffnen, könnte das System zusammenbrechen.