Christian Werner über das Album „Nine Lives“.

Die Neunziger waren eigentlich ein gutes Jahrzehnt für Aerosmith. Dank der visuellen Unterstützung von MTV und Alicia Silverstone, die als schauspielernder Jungstar in drei Musikvideos der Band reüssierte. Die Dekade begann 1993 also mit dem überraschenden und millionenfachen Erfolg von „Get a grip“, das fünf Singles einbrachte, darunter die drei Songs mit der kecken Blondine im Video.

Das Nachfolgealbum „Nine Lives“ im Jahr 1997 -- und somit das einzige weitere Studioalbum der Band in jenem Jahrzehnt – konnte da nur hintenanstehen. Auch wenn man videotechnisch wenigstens einen Punktsieg erlangen konnte mit dem Clip zur drolligen Farbton-Schwärmerei „Pink“.

Die Kritiken waren zur Veröffentlichung meist nicht schmeichelhaft: nichts Neues, textlich die alte Leier und musikalisch zum Gähnen, so das Credo vieler Rezensenten. Man konnte es damals freilich bedenklich und abgedroschen finden, wenn Sänger Steven Tyler mit fast 50 Jahren wiederholt über seine Libido (oder die von anderen) singt.

Das Cover des Albums
Das Cover des Albums "Nine Lives" von Aerosmith. © Columbia / Sony | Columbia / Sony

Aus heutiger Sicht ist das im Sinne der zu vermeidenden Altersdiskriminierung freilich in Ordnung. Nebenbei: Bestimmte Sehnsüchte und Bedürfnisse ändern sich mit dem Alter nicht, mit der frühzeitigen Thematisierung und im besten Fall gesellschaftlichen Durchdringung dieser könnte Tyler inzwischen auch als Vorreiter gelten. Der Greis sei heiß, würde etwa Udo Lindenberg nur achselzuckend dazu sagen.

„Nine Lives“ ist außerdem musikalisch weitaus facettenreicher als der erfolgreiche Vorgänger „Get a grip“, bei dem sich außer den besagten Hitsingles auf Albumlänge in der eintönigen Produktion tatsächlich Langeweile einstellt. Das Album ist außerdem kreativer und weniger vorhersehbar als der Nachfolger „Just push Play“, bei dem die alten Rock-Recken auf Nummer zu sicher gegangen sind.

Natürlich hat die Band auf ihre bewährten Co-Komponisten gesetzt, natürlich nutzt Tyler sein kreischendes Organ exzessiv, natürlich steht die gitarrengetriebene Songstruktur im Vordergrund. Aber Songs wie „Full Circles“, „The Farm“, oder „Ain’t that a Bitch“ mit ihren spielerischen Arrangements sucht man im Aerosmith-Werkverzeichnis dieser Jahre ansonsten vergebens.

Das Jahrzehnt beschließt die Band mit dem Schmachtfetzen „I don’t want to miss a Thing“ aus dem „Armageddon“-Soundtrack, an dem sie nicht mal mitgeschrieben hat. Für einige ein weiterer Tiefpunkt. Doch der Schmalz ist mit Rockröhre besser zu ertragen als von einer Schmuse-Chanteuse.

Reinhören!

Wir haben die Playlist zum Krisen-Modus. Hören Sie unsere Auswahl an Songs für die Heimarbeit, zur Kurzweil oder für andere Ablenkungen in Selbstquarantäne. Die Titel werden mit jeder neuen Folge unserer Kolumne erweitert. Und hier erfahren Sie, warum die Songs ausgewählt wurden.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

#langenichtgehört: Lehrmeister per Lautmalerei

#langenichtgehört: Mit Schmackes und schmusend