Erfurt. Das Theater Waidspeicher verpuppt sich zum und entpuppt sich als Varieté. Ein tierisches Menschenvergnügen.

Mit Ovids „Metamorphosen“ haben sie vor sieben Jahren auch mal gespielt: in einer von inzwischen 189 Inszenierungen, die Erfurts Puppentheater binnen vierzig Jahren auf die Bühne brachte. In der 190., die ganz ohne Worte auskommt und wohl gerade deshalb so vielsagend wirkt, spielen sie zwar nicht damit, aber gleichsam daraus: „Herüber, hinüber/ Irrt der belebende Hauch, und in andre beliebige Glieder / Ziehet er ein und geht aus Tieren in menschliche Leiber/ Und in Getier von uns und besteht so ewige Zeiten.“

So funktioniert dieser Abend, den das Spieler-Quintett von den Bühnenseiten her in einer musikalisch-akustischen Live-Performance buchstäblich beatmet. Mit Stimme, Instrumenten und Effektgerät hauchen, hecheln, grunzen und singen sie der Szene Seele ein, komponiert und einstudiert von Johannes Frisch.

Atem, Hauch, Seele – das ist die Anima, die dem roten Samtsofa auf der Bühne zufliegt. Darauf, dahinter, darüber und aus den Ritzen holen sie das Animal heraus: das Tier, aus dem der Mensch wurde, zu dem er wieder werden kann, das jedenfalls noch in ihm schlummert. Und nun erwacht.

Dabei, im Anfang war’s umgekehrt, da wurde das Menschliche im Tier beschworen: „Vom Katerchen, das Stiefel trug“ hieß im November 1979 die erste Aufführung der neuen Sparte an Erfurts städtischen Bühnen, die später in den Waidspeicher zog und dort 1993 zum vereinsgetragenen, öffentlich aber doch weiter geförderten Privattheater wurde.

Man hat sich dort nicht nur strukturell also oft verändert, sondern auch in den Darstellungsformen immer wieder neu erfunden. Metamorphosen eben. Jetzt hat sich das Puppentheater mit Figuren und Objekten neu verpuppt. Und es entpuppt sich sodann als aberwitziges Varieté. Auf dem Weg dorthin werden Körper- und Beinkleider tatsächlich zum Kokon (Kostüme: Mila van Daag).

Das Varieté schmückt sich häufig mit fremden beziehungsweise falschen Federn und erfand dafür sogar ein unmögliches Tier: die Federboa. Die „Animalisten“ im Waidspeicher, die der Stuttgarter Regisseur Frank Soehnle für sein Ensemble und mit diesem etabliert, gehen einen Schritt weiter: Sie häuten sich derart, dass Künstliches von außen die innere Natur provoziert: Federn, die sie sich an den Kopf oder die Gelenke stecken, wachsen ihnen spielerisch aus dem Unterleib. So entstehen lustige Mischwesen. Aus Menschen, die farblos durchs Leben huschen oder gockeln, schleichen oder stolzieren, werden bunte schräge Vögel. „Keines verbleibt in derselben Gestalt“, wie Ovid wohl sagen würde.

Heinrich Bennke knallt gegen eine pinkfarbene Seeigelkugel; er trägt zitternd und wackelnd eine entsprechende Frisur davon sowie ein reptilienartiges Fischgesicht mit sich herum. Maurice Voß wachsen zusätzliche Beine biegsam aus den Hüften; er geht mit einer spinnenartigen Marionette eine Symbiose ein. Ein Bettvorlegerfell springt Steffi König an; sie landet als Zotteltier auf dem Boden. Aus Kathrin Blüchert dringen kleine Urviecher hervor, stürzen sich wie die Geier auf sie und beißen sich fest. Und Tomas Mielentz, der Gummitierchen aus dem Sofa pult, über das er kriecht und gleitet, entkleidet ein Schaf auf Rädern zum Pferd und befiedert es: dass es ihm gleich sei.

Wir sehen: Fünf Menschen mit Hummeln im Hintern und Schmetterlingen im Bauch, die sich den Wolf spielen. Das folgt einem kindlich-naiven Trieb, der hier bewusstseinsverändernd oder gar -erweiternd wirkt. Die Spieler sind ganz bei sich und wachsen so erst über sich hinaus.

Puppenbauerin Kathrin Sellin gesellt ihnen merkwürdiges Getier hinzu, das, ob Spinne, Echse oder was auch sonst, mit roten Pumps beschuht ist und knallrote Lippen trägt. Sie sind, wie dieser sehr heitere Abend mit all seinem tiefschürfenden Unsinn überhaupt, zum Knutschen: in einem komischen Nummernprogramm, das auf fünfzig Minuten angelegt ist und über genau diese Zeit trägt, nicht über mehr. Und dem Lachen entspringt Philosophie.

Frank Soehnles „skurril-theatralische Versuchsanordnung“, wie dieses Stück beschrieben ist, feiert zum Erfurter Theater-Jubiläum, dem neben dieser Premiere jetzt ein ganzes Festwochenende gewidmet war, im Puppentheater das Leben und im Leben das Puppentheater: wo sich unbelebte in belebte Materie verwandelt, wo Veränderung die einzige Konstante ist. Sie setzen uns damit keine Hörner auf. Uns wächst halt nur eine Feder. Ein tierisches Vergnügen, das zutiefst menschlich ist.

Wieder am 17. September, 19.30 Uhr, am 11. Oktober um 21 Uhr sowie am 12. & 26. Oktober, 15 Uhr.