Erfurt. Alexander Osang hat seiner deutsch-russischen Familie nachgeforscht und darüber einen bewegenden Roman geschrieben – ein Jahrhundertwerk über ein Leben auf der Flucht.

Wer glaubte, dass die Geschichtsschreibung nach der Teilöffnung der Moskauer Archive einfacher geworden wäre, sollte Alexander Osangs „Die Leben der Elena Silber“ lesen. Eine Familiengeschichte. Ein Epos. Eine Odyssee. Nichts sei so unvorhersehbar wie die Vergangenheit, besagt ein sowjetisches Sprichwort. Osang stellt es seinem neuen Roman voran. Darin kämpfen die Vorfahren auf blutgetränktem russischen Boden – erst für eine bessere Welt, dann ums Überleben. Und Osangs Alter Ego, der im heutigen Berlin lebende Filmemacher Konstantin Stein, versucht, seine Herkunft zu ergründen. Ein schwieriges Unterfangen, denn wie lassen sich im Zeitalter Lenins, Stalins, Hitlers und Ulbrichts Sein und Schein voneinander trennen?

Der Roman spielt auf diesen zwei Ebenen, die aufeinander zulaufen: Im Jahr 2017 versucht Konstantin Stein zunächst mehr über seine russische Großmutter zu erfahren. 1905, davon hat sie oft erzählt, wurde in ihrem Geburtsort Gorbatow an der Oka ihr Vater, der Revolutionär Viktor Krasnow, grausam hingerichtet. Großmutter Baba hieß damals noch Jelena, war gerade zwei Jahre alt und musste mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Pawel vor den Mördern fliehen. Und mit eben jener Flucht setzt der andere Erzählstrang ein, der Jelena durch die Wirren des mit Hoffnungen und Tragödien beladenen 20. Jahrhunderts folgt – von Gorbatow über Nischni Nowgorod, Moskau, St. Petersburg, das schlesische Sorau bis ins Berlin der 1980er-Jahre.

Man wird von der ersten Seite an hineingezogen in den Strudel der Ereignisse, in dem Jelena und ihre Töchter mehrfach unterzugehen drohen. Doch immer wieder finden sie die Kraft, sich zu behaupten – und sei es um den Preis der Wahrheit.

Dass da einiges nicht stimmen kann in der Familiensaga, spürt Konstantin Stein schon früh, doch seine Nachforschungen verlaufen immer wieder im Sande. Baba kann er nicht mehr befragen, sie ist gestorben, und sein Großvater, der deutsche Unternehmer Robert Silber, ist wie auch einer seiner Onkel seit Kriegsende verschwunden. Bleiben nur der ins Altersheim abgeschobene Vater Claus, die mit sich selbst in Unfrieden lebende Mutter Maria und deren schwierige Schwestern – Elenas Töchter, von denen drei noch da sind, die ihre Vergangenheit jedoch verdrängen.

„Eine Reise zu den Dämonen meines Geschlechts“

Das über 600 Seiten starke Romanepos, das zurecht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, wird wechselweise aus der Perspektive der russischen Großmutter und ihres deutschen Enkels entfaltet – wobei sich die beiden Stränge immer näher kommen – und vom Erzähler, der kein allwissender, sondern ein hartnäckig hinterfragender ist, kommentiert. „Sie füllte die Lücken in ihrem Leben mit Geschichten und spürte, wie ihr das half“, räsoniert er beispielsweise über Elena Silber. Ein paar Hundert Seiten früher lässt er ihren in die stalinistischen „Säuberungen“ verstrickten Bruder Pawel sagen: „Traue den Geschichten nicht, die sie dir erzählen. Die Menschen erinnern sich nur an das, was in ihre Lebensgeschichte passt.“

Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 619 Seiten, 24 Euro.
Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 619 Seiten, 24 Euro. © S. Fischer Verlag/dpa

Da vermeint man unmittelbar die Stimme des Autors zu vernehmen. Konstantin Steins Befragungen der Verwandten und seinen Reisen zu Babas Lebensstationen im Buch gingen aufwändige Recherchen des Schriftstellers und Journalisten Alexander Osang voraus, die ihn bis zu den russischen Originalschauplätzen führten: „Ich stand an der Stelle, wo vor mehr als hundert Jahren mein revolutionärer Urgroßvater gestorben ist“, schreibt er im „Spiegel“. „Es gibt eine Straße, die nach ihm benannt ist. Sein Blut war versickert, aber ich spürte seinen Auftrag. Ich fuhr nach Hause und begann, ein Buch zu schreiben, das die dunklen Ströme auslotet, die unter meinem Leben fließen. Eine Reise zu den Dämonen meines Geschlechts.“

Dass das literarische Ergebnis nicht wie aus einem Guss erscheint, schmälert keinesfalls den Lektüre-Genuss. Da reiben sich starke erzählerische Kapitel, in denen sich die emotionale Welt der Großmutter von ihrer Kindheit bis ins hohe Alter entfaltet, mit reportagehaft aneinander gereihten Passagen der Gegenwart, wobei die Besuche Konstantins bei seinem unter Demenz leidenden Vater wiederum auf andere Art berühren.

Im Mittelpunkt stehen die Frauen: Jelena, die nach der Vermählung mit dem sowjetische Aufbauhilfe leistenden deutschen Unternehmer Robert Silber und der gemeinsamen Flucht vor Stalins politischem Terror ins faschistische Deutschland nur noch Elena heißt, sowie ihre Töchter Lara, Vera, Maria und Katarina. Anna, die Jüngste, stirbt schon als Kind. Doch Rätsel geben vor allem Elenas Männer auf, zu denen auch ihre Jugendliebe Alexander, der Sohn eines an der Ermordung ihres Vaters beteiligten Zarengetreuen, zählt. Ihn trifft Elena überraschend als Offizier der Roten Armee wieder, kurz bevor Berlin eingenommen wird und ihr Mann spurlos verschwindet. Eine Liaison nur, denn auch Alexander wird aus ihrem Leben abgezogen. „Manchmal geraten Menschen in Zusammenhänge, die größer sind als sie selbst. Man muss froh sein, wenn man überhaupt noch da ist“, wird er ihr später mitteilen, im letzten Brief, den Elena von ihm aus Moskau erhält.

Konstantin Stein alias Alexander Osang stößt bei seinen Nachforschungen über die Familie immer wieder auf schicksalhafte Ereignisse, die, den schwierigen Verhältnissen geschuldet, umgemünzt wurden. Lügen der Hoffnung und Lügen der Angst. Überlebenslügen. Und so bleiben nicht nur weiße Flecken, sondern auch Fragen offen: Was wurde aus Konstantins deutschem Großvater Robert? Floh er in den Westen oder haben ihn die Russen geholt?

Der „Spiegel“-Reporter Alexander Osang hat schon eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht, Reportage-Bände und Romane. Darunter das bewegende Porträt der an Krebs verstorbenen Silly-Sängerin Tamara Danz, ein Augenzeugenbericht vom 11. September 2001 und „Comeback“, die Wende-Geschichte einer ostdeutschen Rockband. Mit „Die Leben der Elena Silber“ ist ihm ein Jahrhundertwerk gelungen, ein Roman über ein Leben auf der Flucht, das sich wie ein Menetekel auf das angebrochene 21. Jahrhundert liest.

Zur Person

  • Alexander Osang wurde 1962 in Berlin geboren, studierte in Leipzig Journalistik und arbeitete als Wirtschaftsredakteur, Lokalchef und dann viele Jahre als Reporter für die Berliner Zeitung.
  • 1999 ging er für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ nach New York.
  • 2000 veröffentlichte er seinen ersten Roman, „Die Nachrichten“, der 2005 von Matti Geschonneck verfilmt wurde.
  • Seit 2018 lebt er mit seiner Frau, die als Israel-Korrespondentin der Berliner Zeitung arbeitet, in Tel Aviv und schreibt für den „Spiegel“ und die Berliner Zeitung.
  • Osang wurde für seine Reportagebücher mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und für das Drehbuch zu „Die Nachrichten“ mit dem Adolf-Grimme-Preis geehrt.

Der Autor ist am 22. Oktober, 20.15 Uhr, in der Buchhandlung Hugendubel Gast der Erfurter Herbstlese.