Weimar. Der neue Weimar-Tatort „Die harte Kern“ fällt insofern aus dem Rahmen, indem er eben nicht aus dem Rahmen fällt, sondern zurück in den eines erwartbaren Sonntagabend-Krimis.

Lessing steuert den Wagen mit neunzig Sachen über eine Buckelpiste, dem Einsatz entgegen, und Kira fragt, ob sie womöglich auf der Flucht sind. Sehr viel später sind sie es dann tatsächlich: In einer alten Duo, einem dreirädrigen Versehrtenfahrzeug aus DDR-Produktion, zuckeln sie gleichsam dem Showdown auf dem Schrottplatz entgegen.

Dort versucht zu Beginn aber erst einmal der Besitzer zu fliehen: Harald Knopp, endlich eines Raubmordes vor fünfzehn Jahren überführt, humpelt an der Krücke davon und Kira ist sich sicher: „Er schafft die hundert Meter in sechs Minuten!“

Dafür schafft „eine sehr athletische Putzfrau“ in der Polizeiinspektion ein Stockwerk in vier Sekunden: Ihre Marathonbestzeit liegt bei viereinhalb Stunden; jetzt trainiert sie bei der Arbeit für den Ironman.

Eine Beschwerde an die IT-Abteilung des Innenministeriums wird mit etwas Glück in ein, zwei Jahren beantwortet. Und Polizist Lupo, „unser Streifenhörnchen“, rühmt sich zwar schneller Auffassungsgabe; der Groschen fällt aber nur pfennigweise.

Dieser Fall ist nicht einmal halb so grotesk wieder alle bisherigen

Aha, das ist also ein Krimi der unterschiedlichen Geschwindigkeiten: ein Spiel mit Be- und Entschleunigung, in dem die Mühlen der Justiz erst sehr langsam mahlen, bevor alles doch sehr schnell geht.

So könnte man denken, so könnte es sein. Aber so ist es eben nicht.

Dieser Fall von Dorn und Lessing fällt auf sie selbst zurück, der Ermittlungsstand von Kommissaren und Zuschauern fällt in eins und „Die harte Kern“ fällt insofern aus dem Rahmen des „Tatorts“ Weimar, indem er eben nicht aus dem Rahmen fällt, sondern zurück in den eines erwartbaren Sonntagabend-Krimis.

Dieser Fall ist nicht einmal halb so grotesk wieder alle bisherigen, abgesehen von einem grotesk simpel gestrickten Drehbuch. „In unserem neunten Weimarer Tatort herrscht eine etwas andere Tonalität“, lässt sich Regisseurin Helena Hufnagel in einem Presse-Statement vernehmen; man habe hier „den emotionalsten aller Weimarer Fälle gedreht.“ Der thematisiert das Problem mit der Zeit derart, dass er wohl auf ein pragmatisches Zeitproblem reagieren musste.

Christian Ulmen landet als Kriminalhauptkommissar Lessing in U-Haft und ist insgesamt weniger als eine halbe Stunde präsent. Das könnte daran liegen, dass parallel zu den Dreharbeiten in Weimar vor einem Jahr in Potsdam jene zu neuen Folgen der Comedy-Serie „Jerks“ begannen, bei der Ulmen Hauptdarsteller und Regisseur in Personalunion ist.

Alle Skurrilität im Banalen, das Besondere im Gewöhnlichen zerquetscht

Damit aber „hatte das nichts zu tun“, dementiert unterdessen die Produktion auf Nachfrage unserer Zeitung, „wenngleich wir selbstverständlich bei jeder Drehplanung versuchen, auf andere Projekten unseres Casts Rücksicht zu nehmen.“ Das Drehbuch habe „von Anfang an vorgesehen, dass gegen ,Lessing‘ ermittelt wird und er im Gefängnis landet. Deshalb hatte Christian Ulmen dieses Mal etwas weniger Drehtage . . .“

Das Drehbuch stammt von Sebastian Kutscher und Deniz Yildizr: halbwegs kaschierende Pseudonyme für Autoren, die wohl noch lieber ungenannt blieben. Die Stammautoren Murmel Clausen und Andreas Pflüger seien „mit anderen Projekten ausgelastet“ gewesen, heißt es. Sie mussten schließlich aber doch noch ran, um in den Dialogen „den typischen Humor und Wortwitz zu bieten“. Hilfe, die allerdings zu spät kam.

Das Ganze dreht nicht auf, es dreht nicht ab, es dreht nicht durch. Es dreht sich um sich selbst und landet vorhersehbar: in der Schrottpresse. Dort haben sie alle Skurrilität im Banalen, das Besondere im Gewöhnlichen zerquetscht, den alltäglichen Wahnsinn eben, den dieser „Tatort“ sonst bis zur Kenntlichkeit entstellte. Und emotionaler ging’s auch schon zu, in Szenen auf Leben und Tod.

Die kleine pseudoindische Statue, die den Gott des Unheils zeigt

Nun sitzt Nora Tschirners Kira unter Tränen vor dem Geburtstagskuchen für den Zwerg, während der „Tatort“ als wilder Kindergeburtstag ausfällt: Der Sohn von Dorn und Lessing wird Fünf und soll seine erste große Party erleben, aber der Vater sitzt hinter Gittern. Mit seiner Waffe wurde Hinkebein Knopp (Heiko Pinkowski) erschossen, den er dingfest gemacht hatte, der aber vor Gericht freigesprochen wurde. Ausgerechnet der Neffe des Opfers gab ihm ein Alibi. Und ausgerechnet Lessing stößt auf Knopps Leiche, als er die Dienstwaffe mal wieder nicht dabei hat . . .

Auftritt Eva Kern: interne Ermittlerin vom LKA, früher mal mit Kommissariatsleiter Stich (Thorsten Merten) liiert, scharf gewesen mehr auf den Posten, den er bekam, als auf ihn, noch heute traumatisiert von ihrem ersten Fall bei der Kripo in Eisenach. Nina Proll spielt ein einsames Cowgirl, schnoddrig und gefühlsarm. Eine tolle Besetzung, aus komödiantischer Sicht aber verschenkt. Die Proll bekommt keine Gelegenheit, ihr Standardrepertoire zu verlassen.

Ansonsten dreht sich alles um die kleine pseudoindische Statue, die den Gott des Unheils zeigt: viele Jahrhunderte auf dem Buckel, millionenschwer, womöglich fluchbeladen. Und um eine verkannte Schauspielerin, die auf der Bühne den Eisberg der „Titanic“ spielt, aber als Lupos neue Liebe die Rolle ihres Lebens.

„Jetzt hör’ doch mal auf mit dem Schrott“, ruft Stich an der Schrottpresse der harten Kern zu. Und wir denken nur: Ja, bitte! Dafür trifft Kira nicht nur den harten Kern der Sache, sondern zielsicher mit der Waffe Schulter oder Wade. Zugleich trifft sie der absurde Verdacht gegen ihren Mann schwer. Tschirners weit ausschwingendes Gefühlspendel glänzt durch allen Schrott hindurch.

„Tatort – Die harte Kern“: Sonntag, 22. September, 20.15, Das Erste, sowie 21.45 und 23.15 Uhr, One.