Erfurt. Die in Weimar geborene Schriftstellering Sibylle Berg erhält den mit 12.000 Euro dotierten Thüringer Literaturpreis und erinnert an ihre Jugendjahre in der DDR.

Die Schriftstellerin Sibylle Berg ist am Dienstagabend im Erfurter Haus Dacheröden mit dem Thüringer Literaturpreis geehrt worden. Die Jury habe einstimmig für die in Weimar geborene und heute in der Schweiz lebende Autorin votiert, sagte Kulturstaatsminister Immanuel-Benjamin Hoff (Die Linke) in seinem Grußwort. Geehrt werde sie für ihr umfangreiches Gesamtwerk, das in stilistischer und struktureller Klarheit zentrale Veränderungen und Verunsicherungen unserer Gesellschaft beschreibt und ihre Wirkung auf den Einzelnen präzise analysiert.

„Sie sind eine unglaublich taffe Frau, die mitten in den gesellschaftlichen Kontroversen steht“, sagte Hoff an die Autorin gewandt. Ganz oben auf der Prioritätenliste von Berg stünden die Rechte und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen. In diesem Sinne mache sie auch den Sexismus im Literaturbetrieb zum Thema.

Zum fünften Mal beteiligt sich die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen an der Preisvergabe. Vize-Geschäftsführerin Nicole Schlabach würdigte Berg als wortgewaltige und sprachmächtige Schriftstellerin, deren Werk eine scharfe Formulierungsweise mit treffsichere Humor vereint.

In ihrer Laudatio bezeichnete die Literaturwissenschaftlerin Johanna Bohley von der Friedrich-Schiller-Universität die Preisträgerin als Aufklärerin und Moralistin in gutem Sinne, deren die mit ihrem originellen und brillanten Werk dazu ermutige, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Ihre Romane zeigten Überzeugungen, Normen und Handlungsweisen auf, die unsere Gegenwart bestimmen und uns umgeben.

Als produktive und meinungsstarke Stimme sei sie somit ein unverzichtbarer Bestandteil der Gegenwartsliteratur. Sympathisches wie wiedererkennbares Merkmal ihrer Literatur sei immer wieder, dass diese an dem Punkt anfange zu erzählen, wo geschlossene Erzählungen meist schon geendet haben. Ihre Literatur fange an dem Punkt an zu denken, an dem viele das Nachdenken aufgegeben und es anderen überlassen hätten, seien es gesellschaftliche Veränderungen, das Internet oder die Zukunft. Zwei weitere wichtige Konstanten seien das Thema Gegenwart und ein Pessimismus, der in Form erhellender Desillusionierung auf Erkenntnis abziele.

Erinnerung an Kindheits- und Jugendjahre in Weimar

Die Preisträgerin selbst erinnerte in ihrer Dankesrede an ihre Kindheits- und Jugendjahre in Weimar und in der DDR. Heimat sei neben den Begriffen Nation und Stolz gerade ein großes Thema. Sie stamme aus einem Osten, den es nicht mehr gibt, außer in ihrer Erinnerung. Meine Heimat war Thüringen, war Weimar, sagte Berg.

Wörtlich führte sie aus: „In den schönen zerfallenen Häusern wohnten vermutlich auch damals nur Menschen. Einige waren sicher bei der Stasi, andere schlugen ihre Kinder. Sie waren krank oder ratlos – wie heute. Wie überall. Wissen Menschen doch nicht, wie die Welt funktioniert, die zu komplex für den Verstand ist. Wie zu jeder Zeit wollen wir nicht sterben und wissen doch, dass wir bald verschwunden sein werden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Wenn man den Ort, an dem man geboren ist, verlässt, wird man vielleicht einen angenehmeren Platz zum Leben finden. Neue Bekannte, schöne Bäume, hübsche Straßen. Alles kann man finden, vielleicht ist es besser, als das, was man verlassen hat, meist ist es nur anders. Lange glaubte ich überall leben zu können, meiner unglaublichen Offenheit gedankt. Ich wollte, die Welt verstehen, einen Platz finden, der nur für mich existiert und fand doch überall nur Menschen. Schade, dass ich nicht 300 werde und viele Leben in vielen Ländern ausprobieren kann.

Schade, dass ich das nicht mehr will. Weil ich nicht mehr glaube, dass es Orte mit ausnehmend freundlichen Menschen und klugen Regierungen gibt. Schade, dass ich nicht mehr daran glaube, dass sich die Menschheit ohne Rückschläge weiterentwickelt.“ So Sibylle Berg. Sie dankte für den Preis, der ihr die Gelegenheit gegeben habe, Thüringen wiederzusehen – und zu erkennen: „Heimat ist für mich der Ort, um den ich mich sorge – und das ist die Welt.“

Der Thüringer Literaturpreis wird seit 2005 im Rhythmus von zwei Jahren vergeben – seit 2011 gemeinsam vom Freistaat Thüringen und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen in Zusammenarbeit mit dem Thüringer Literaturrat e. V.. Der Preis ist mit 12.000 Euro dotiert. Die Preisträgerinnen und Preisträger der vorangegangenen Jahre sind: Sigrid Damm (2005), Ingo Schulze (2007), Reiner Kunze (2009), Jürgen Becker (2011), Kathrin Schmidt (2013), Wulf Kirsten (2015) und Lutz Seiler (2017).