Harz. Der Borkenkäferbefall und seine Folgen: Eine ganz besondere Auswanderer-Geschichte aus dem Harz nach Shanghai.

Die letzte Reise einer langen Fichte aus dem Oberharz ist kurz erzählt. Frisch von Borkenkäfern befallen, fällt ein Harvester den kranken Baum Ende Juni nahe Clausthal-Zellerfeld. Danach geht alles ziemlich schnell: Von der Vollerntemaschine auf genau 11,8 Meter Länge eingesägt, lagert der Stamm wenige Tage am Waldweg. Dann fährt ihn ein Holz-Lastwagen in den niedersächsischen Hafen Nordenham. Dort wird der Harzer Nadelbaum in den Bauch eines Transportschiffes geladen, das insgesamt 30.000 Kubikmeter Fichten-Rundholz verstaut. Mitte Juli geht die Reise über die Meere nach China, wo das Rohholz aus den Niedersächsischen Landesforsten im Großraum Shanghai verarbeitet wird und die Geschichte fast schon zu Ende ist.

Doch hinter der Lebensgeschichte der 70-jährigen Harzfichte steckt mehr als nur ein schnelles und vorzeitiges Ende. Als eine Kulturfrau sie 1950 im Revier Diedrichsberg zusammen mit 3000 weiteren Setzlingen pflanzte, waren ihre Überlebenschancen in der Nachkriegszeit anfangs gering: Die abgeholzte Freifläche nach den Engländer-Kahlschlägen reichte bis zum Horizont, und die Sonne verbrannte viele ihrer Artgenossen.

Harzer Kulturfrauen pflanzen Fichten auf Kahlflächen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass ihre Bäume mal in China verarbeitet werden, war für sie unvorstellbar.
Harzer Kulturfrauen pflanzen Fichten auf Kahlflächen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass ihre Bäume mal in China verarbeitet werden, war für sie unvorstellbar. © NLF-Archiv

Wer von den 3000 Jungfichten die ersten Hungerjahre überstanden hatte, sollte ein stattlicher Baum werden. Doch bis dahin war der Weg noch weit und voller Risiken. Schon im jugendlichen Alter mussten Förster die wohlschmeckende Fichtenrinde vor Hirschfraß schützen. Dafür konnte der Sturm Quimburga vom 13. November 1972 dem biegsamen Baum noch keine Nadel krümmen. Erst Schadstoffe in der Luft und der saure Regen setzten der Fichte in den 1980er-Jahren im Oberharz zu. Davon bekam sie gelbe Nadeln und verlor die älteren Nadeljahrgänge. In dieser Lebensphase halfen ihr Forstleute mit Waldkalkungen, den Boden zu verbessern. Höhere Umweltstandards führten zu weniger Schadstoffen in der Luft und zum „Durchatmen“ für die Fichte.

Die Harzer Forstleute nutzten die Erfahrungen aus den Sturmschäden von 1972 sowie die Erkenntnisse aus der Waldschadensforschung für ein innovatives Waldprogramm: Seit 1991 stand die Harzfichte unter dem Schutz des Regierungsprogramms mit Namen Löwe. Die langfristige ökologische Waldentwicklung hat ein wesentliches Ziel, nämlich gleichförmige Fichtenwälder in strukturreiche Mischwälder zu überführen. Nach dem Löwe-Programm sollte die Fichte von 1950 nun offiziell 120 Jahre alt werden und als Schattenspender für junge Buchenpflanzen dienen. Ihre Bestimmung galt dem Waldumbau, da sie und ihre nur mehr 500 Geschwister als reiner Nadelwald nach dem Krieg angepflanzt waren. Dass Borkenkäfer-Massenvermehrungen ganze Fichtenwälder bedrohen, wussten Forstleute anhand zahlreicher Ereignisse in den vergangenen Jahrhunderten. Wie sehr aber die jüngsten Umweltveränderungen, vor allem der Klimawandel, die Charakterbäume stressen, hatten sie im Harz nicht erwartet.

Stürme Kyrill und Friederike überlebt – an Dürre und Hitze gescheitert

Vielleicht war es ihr junges Alter oder der geschützte Standort: Weder der Sturm Kyrill im Januar 2007 noch Sturm Friederike im Winter 2018 brachten sie zu Fall. Erst zuletzt zwei aufeinander folgende Dürrejahre mit viel zu wenig Regen und die massenhafte Borkenkäfer-Vermehrung zwangen sie in die Knie. Trotz Borkenkäferbefall unter der Rinde ist ihr Holz verwertbar. „Zwar liegt der Holzpreis infolge eines Überangebots am Boden, doch jeder Stamm, der den Harz verlässt und zu einem Holzprodukt verarbeitet wird, ist ein Beitrag zum Klimaschutz“, erläutert Christof Oldenburg. Der Forstwissenschaftler verantwortet den Holzverkauf Süd bei den Niedersächsischen Landesforsten. Er stellt die Liefermengen an Fichtenholz für das Holzhandels- und Forstunternehmen Claus Rodenberg Waldkontor zusammen. Das Holzhandelsunternehmen hat ein sogenanntes Break Bulk-Schiff gechartert, das derzeit auch mit Fichten aus den Harz-Forstämtern und Südniedersachsen beladen wird.

Eine von Borkenkäfern befallene Harzfichte von 1950 wartet im Juli 2020 auf ihre Reise nach Shanghai.
Eine von Borkenkäfern befallene Harzfichte von 1950 wartet im Juli 2020 auf ihre Reise nach Shanghai. © Michael Rudolph

„Den im Holz gebundenen Kohlenstoff hat die Fichte aus der Atmosphäre entnommen. Beim Wachsen eines Kilos Holz bindet der Baum zwei Kilo Kohlendioxid aus der Luft“, errechnet Christof Oldenburg die positive Klimabilanz und ergänzt: „Ließe man das Holz verrotten statt es zu nutzen, um daraus Dachstühle, ganze Häuser oder andere Holzprodukte anzufertigen, würde der Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre abgegeben – ein Rückschlag für den Klimaschutz.“ Mit Blick auf die Wiederaufforstung der Schadflächen betont Oldenburg: „Uns ist deshalb wichtig neben allen anderen Funktionen des Waldes auch die Holzversorgung langfristig und dauerhaft zu sichern.“

Wird der Borkenkäfer zum Klimakiller?

Dass die 70-jährige Harzfichte zum Exportschlager werden könnte, sehen Waldbesitzer mit Ernüchterung. Lieber hätten sie diese und zigtausend weitere Bäume von 1950 für ihre Enkel stehengelassen. Auf den Kahlflächen wird der Umbau in klimaangepasste Mischwälder nun schwieriger und teurer. Das Löwe-Programm von 1991 gilt weiter und ist dringender denn je. Der Borkenkäfer wird weiterhin intensiv bekämpft, um seine Ausbreitung in Grenzen zu halten. Schließlich soll er nicht auch noch zum „Klimakiller“ werden. Forstleute hoffen auf ein baldiges Ende der Käferplage, damit nicht endlos viele Harzfichten als Auswanderer auf dem Schiff ihrer Bestimmung in Übersee entgegenreisen.