Matthias Kaiser reist durch Thüringen und entdeckt bemerkenswerte Restaurants. Heute: Landgasthof Magersdorf.

Wie sich meine treue Leserschaft vielleicht erinnern wird, besuche ich seit Anfang des Jahres hauptsächlich Thüringer Landgasthöfe und Miniwirtschaften, in die ich schon seit Langem einkehre. Mehrere dieser familiengeführten gastlichen Stätten standen vor einigen Jahren schon im Mittelpunkt meiner Rezensionen. An Hand eines Vergleichs meiner damaligen mit meinen neuen Erfahrungen, wollte ich unter anderem auch erforschen, welchen Weg das Gaststättengewerbe Thüringens beschritten hat und auf welche gastronomischen Freuden oder Schrecken wir uns zukünftig einstellen müssen.

Der letzte Besuch vor der vom Virus ausgelösten Krise – ich weigere mich ganz einfach, den Namen dieses Fieslings aufs Papier zu bringen – führte mich nach Magersdorf, einer beschaulichen Enklave ohne Durchfahrtsstraße im Saale-Holzland-Kreis, die sich unweit von Unterbodnitz in einer Senke hinter einer 311 Meter hohen Erhebung namens „Sommerberg“ versteckt. Nur rund 15 Kilometer vom pulsierenden Jena entfernt liegt dieser erstmals 1400 urkundliche erwähnte und inzwischen nur noch von 30 Menschen bewohnte Fleck(en) in der Landschaft; scheinbar am Ende der Zivilisation. Hier treffen sich selbst Fuchs und Hase nicht mehr, um Gute Nacht zu sagen. Es ist, wie anfangs erwähnt, einer der mir vertrauten Orte, die ich seit Jahren hin und wieder besuche.

Obwohl dieses Gasthaus als pulsierender Treffpunkt des dörflichen Lebens nicht mehr jene gesellschaftliche Bedeutung besitzt, wie früher die Gasthäuser in jeder Gemeinde, ist dieser Familienbetrieb für mich noch immer das Paradebeispiel für jene Bodenständigkeit, die nötig ist, um Gästen über Generationen hinweg (auch in schweren Zeiten) kleine Momente des Glücks und der Geborgenheit zu bescheren. Und das, obwohl sich das Speisen- wie auch das Getränkeangebot des Magersdorfer Landgasthofes in einem Segment bewegen, das die meisten von „Discountern“ erzogenen „Gourmets“ als biederen und allenfalls braven Sättigungsersatz einstufen werden. Und für das diese mit „internationalen Delikatessen“ (ich denke da beispielsweise an das oft über Tausende Kilometer weit angekarrte Bio-Gemüse) verwöhnten „Ethikesser“ bestenfalls nur ein müdes Lächeln übrig haben.

Unseren ersten Besuch absolvierten wir Ende Februar. Nachdem unser Auto die steile Straße hinter Sulza erklommen hatte, lag plötzlich wie aus dem Hut gezaubert Magersdorf vor uns.

Vorbei am weiß getünchten Glockenturm neben der uralten Dorflinde endete unsere Fahrt in einer Sackgasse, an deren Ende die weiße Fachwerkfassade eines großen Vier-Seiten-Hofes zum Eintreten einlädt: der Landgasthof Magersdorf. Im Sommer und Herbst mit Farbklecksen wilden Weines berankt, präsentierte sich das Anwesen bei unserer Ankunft erwartungsgemäß in winterlicher Zurückhaltung. Nur ein werbender Ausläufer an der Fassade – eine weiß gepunktete Schüssel mit dampfenden Thüringer Klößen – verrät dem Ortsfremden, dass er vor einem Gasthaus steht.

Seit über 120 Jahren – genauer seit 1897 – verwöhnt hier die Familie Mehlhorn ihre Gäste vorwiegend mit dem Thüringer Kloß. Ursprünglich in der aufblühenden wilhelminischen Zeit nur als Zubrot zur Landwirtschaft gedacht, ist der Gasthof inzwischen seit zwei Generationen die Haupterwerbsquelle der Familie. Ohne dabei jedoch gänzlich die bäuerlichen Wurzeln zu vernachlässigen, denn Thomas Mehlhorn, der Ehemann der amtierenden Noch-Wirtin Susann – sie gibt zum Jahresende an Tochter Franziska (30) ab – bestellt als Nebenerwerbslandwirt im Schweiße seines Angesichts die mageren Familienfelder. Das mehr als Konservator alten Brauchtums, als aus pekuniären Gründen. Dort baut er vorrangig die wunderbar duftende „Belana“ an. Eine relativ junge, festkochende Speisekartoffel, die wie geschaffen ist, um daraus den perfekten Thüringer Kloß (eignet sich aber auch hervorragend für Kartoffelsalat) zu formen. Sie wurde erst im Jahre 2000 vom Bundessortenamt zugelassen. Da beide Beschäftigungen nicht ausreichen, um das Anwesen zu erhalten und um seine Familie zu ernähren, fährt Thomas übrigens wochentags noch immer ins Pößnecker Liegenschaftsamt, wo er vorwiegend per pedes als Messgehilfe die Liegenschaften des Grundbuchbereiches abläuft. Immer in Bewegung der Mann.

Was besonders für die Wochenenden zutrifft, an denen der Messgehilfe mit landwirtschaftlichen Ambitionen als Aushilfswirt hinterm Tresen steht. „Mein drittes Steckenpferd“, erklärt er. Unterdessen wirbelt Susann zusammen mit ihrer Nachfolgerin Franziska und ihrer jüngsten Tochter Lisa in der Küche. Lisa, sie studiert in Jena („hauptberuflich“, wie Mutter Susann schmunzelnd kommentiert) Erziehungswissenschaften und Volkskunde, übernimmt – ohne auch nur im Geringsten auf eine Karriere von der Tellerwäscherin zur Millionärin zu spekulieren – nicht nur an den Wochenenden, sondern auch bei Familienfeiern und an solchen Großkampftagen wie Ostern und Weihnachten den Abwasch. Und den bewältigt sie mit einer Routine, die Respekt abverlangt.

Als wir zum Beispiel am vorigen Sonntag – aus virologischen Gründen war dieser erneute Besuch notwendig geworden – gegen 15 Uhr den wie gewohnt proppenvollen Gasthof verließen, waren sowohl der Abwasch erledigt als auch die Küche hochglanzpoliert.

Unterstützt werden die Mehlhorns an den Wochenenden auch vom Neuntklässler Max Wötzel aus dem Nachbarort Unterbodnitz, einem Neffen der Wirtin, der seit einem Jahr getreu dem Motto „früh übt sich, wer ein guter Kloßmacher werden will“ als von allen verhätscheltes „Kloßkind“ in die Geheimnisse der Kloßmacherkunst eingeweiht wird.

Und wenn’s ganz schlimm kommt, ruft man halt mal kurz in der Nachbarschaft um Hilfe. Die kaum einer verweigert. Das Wort Dorfgemeinschaft ist hier mit Leben erfüllt.

Doch zurück zu den Hauptdarstellern: den flauschigen Thüringer Klößen. Handgemacht aus selbst gezüchteten Kartoffeln und gepaart mit den seit Generationen gesammelten Erfahrungen sind sie an Perfektion kaum zu überbieten. Da spielen die Beilagen wie die in Thüringer Gasthäusern unverzichtbaren Rinderrouladen (14,50 Euro), der Entenbraten (15 Euro), der Wildschweinbraten oder der Lammbraten (14,50 Euro), ebenso wie die Vorspeisen und Suppen, aber auch die Desserts nur eine untergeordnete Rolle. Ich möchte diese Braten einmal im guten Sinne als solide Hausmannskost bezeichnen. Braten, die mit Natursoßen und so bewährten Beilagen wie Rotkohl oder Rohkostsalaten serviert werden. Der profane Kloß hingegen, feiert in der – auch sogenannten – Klusstube des Gasthauses wahre Triumphe.

Alle anderen Gerichte, die man an den Wochentag-Abenden ordern kann, wie die hausschlachtene Wurstplatte (12,50 Euro), das unverwüstliche Rostbrätl mit Bratkartoffeln (9,50 Euro) oder auch das traditionelle Bauernfrühstück (9,50 Euro), ja selbst der herzhaft oder süß gebratene Kloß, um nur einige zu nennen, sind bestenfalls appetitliche Lückenfüller.

Der frische Kloß ist König. Wie allerdings nicht anders zu erwarten war, herrschte bei unserem letzten Besuch betrübliche Stimmung. Auf Nachfrage gab man dafür mehrere Gründe an:

Zuerst einmal war man traurig, dass man wegen des Sicherheitsabstandes von 1,50 Meter Stühle aus den Gaststuben entfernen musste. „Das schränkt unsere Kapazität natürlich sehr ein und kann eigentlich nur durch einen längeren Mittagstisch in den Nachmittag hinein etwas kompensiert werden“, erklärte Nebenerwerbswirt Thomas. „Außerdem rate ich, vor allen an den Sonntagen, unbedingt vorzubestellen. Der Spontanität sind halt ebensolche Grenzen gesetzt, wie der Keimfähigkeit meiner Kartoffeln, wenn es wochenlang nicht regnet.“ Sprach’s und zwängte sich hinters Lenkrad seines wartenden Traktors, an dem ein großes Wasserfass hing. „Ich will schnell noch die Kartoffelkäfer mit einer Dusche zu erfrischen. Morgen früh muss die Familie wieder Kartoffelkäfer sammeln – bei uns wird nicht gespritzt!“ Womit er zwei weitere Gründe für die Traurigkeit lieferte – Wassermangel und Schädlingsbefall.

Doch der Hauptgrund war ein anderer! „Da liegt uns noch etwas auf dem Magen“, klagte Susann leise und ich beobachtete, wie sie ihrem Mann mit den Augen die enge Straße hinunter verfolgte. „Unsere treue Ursel, die seit 1970 jeden Freitag die Kartoffeln schält, möchte jetzt, nachdem wir sie als gesundheitlich besonders gefährdete Person arbeitsmäßig etwas aus der Schusslinie nehmen mussten, etwas kürzer treten. Sicherlich ist sie etwas verstimmt, dass wir sie während der Krise, als wir wie viele Kollegen auch, auf Selbstabholung umgestellt haben, nicht geholt haben.“ Ich konnte mich sehr gut erinnern, lernte ich Ursel Seifarth doch schon vor vielen Jahren bei unserem ersten Besuch kennen. „Ursel?“, fragte ich irritiert. „D i e Ursel, die ich kenne?“ – „Welche Ursel sonst?“, konterte Wirtin Susann halb empört; halb schelmisch grinsend. „Wirklich die Ursel?“ Ich war perplex. „Ja stell dir vor: D i e Ursel. Dabei wird sie erst 91 Jahre alt.“

Magersdorf. Eine ländliche Enklave ohne Durchfahrtsstraße und ohne Kirche. Niemand ist hier einsam. Selbst in der Krise nicht.

Die Gaststätte

Landgasthof Magersdorf

Magersdorf 11

07646 Unterbodnitz

Telefonnummer: 036424/22745

Der Gasthof ist geöffnet an den Wochenenden von 11.30 Uhr bis 21 Uhr. Es besteht weiterhin die Möglichkeit der Selbstabholung. An den Wochentagen kredenzt die Familie auch am Mittag bei Reservierung von mindestens zwölf Personen ihre Thüringer Klöße.