Erfurt. Trotz Schulgeldes lernt inzwischen mehr als jeder zehnte Schüler in Thüringen an einer privaten Schule - Tendenz steigend. Die Bildungsgewerkschaft GEW sieht das mit Skepsis.

Das Interesse an den freien Schulen in Thüringen ebbt nicht ab. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen an den Schulen in freier Trägerschaft ist in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gestiegen, wie Daten des Bildungsministeriums in Erfurt belegen. Demnach lernten zuletzt knapp 27.000 Mädchen und Jungen an den derzeit 171 privaten Schulen im Freistaat. Das waren rund 19 Prozent mehr Schüler als vor zehn Jahren. Während im selben Zeitraum 69 staatliche Schulen im Freistaat verschwanden, gab es bei den freien Schulen 30 Neugründungen.

Zwei Drittel davon waren freie Gemeinschaftsschulen. Die zunehmende Schülerzahl an den freien Schulen lasse sich daher zum Teil auch mit dem wachsenden Interesse am längeren gemeinsamen Lernen begründen, sagte Ministeriumssprecher Frank Schenker. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht den steigenden Anteil an Schülern in freien Einrichtungen allerdings mit Sorge. „Der Zulauf zeigt, dass wir im staatlichen Schulwesen Probleme haben, die wir bewältigen müssen“, erklärte die Landesvorsitzende Kathrin Vitzthum.

Gut situierte Eltern schicken ihre Kinder an freie Schulen

Eltern glaubten, dass die öffentlichen Schulen ihren Bildungsauftrag nicht mehr gut umsetzen könnten, so Vitzthum. Freie Träger hätten Strukturen aufgefangen, dort wo der Staat Schulen geschlossen habe. Einen weiteren Grund für das starke Interesse an den freien Bildungseinrichtungen sieht die Gewerkschaftschefin in den pädagogischen Lernansätzen. „Freie Schulen fangen konzeptionell mehr auf.“ Allerdings trügen sie nicht gerade zur Bildungsgleichheit bei, weil das Milieu dort von einer gut situierten Elternschaft mit hohem Bildungsabschluss geprägt sei.

Dem widersprach die Geschäftsführerin der Evangelischen Schulstiftung in Mitteldeutschland, Katrin Vogel. Die Elternschaft sei gemischt und spiegle - auch was die Einkommen betreffe - die gesellschaftliche Bandbreite wider. Die Schulgeldsätze seien zudem sozial gestaltet. In Trägerschaft der Stiftung befinden sich in Thüringen laut Vogel 18 Schulen.

„Wir betreiben keine Schulen im Sinne von Eliteschulen“, stellte Vogel klar. Eltern entschieden sich für diese Schulform, weil dort eine besondere Atmosphäre, ein besonderer Zusammenhalt herrsche, und aufgrund der dort vermittelten christlichen Werte und Normen. Die Lehrer seien engagiert und die Kinder würden so angenommen, wie sie sind.

Besonders in Städten wie Erfurt, Jena oder Eisenach übersteige die Nachfrage die Zahl der Plätze deutlich, so dass Schüler abgewiesen werden müssten. Pläne für weitere Neugründungen freier Schulen hat die Stiftung laut Vogel derzeit aber nicht. Die Finanzhilfen des Landes für die freien Schulen reichen aus Sicht der Stiftung nicht aus.

Die freien Schulen in Thüringen in Zahlen

In Thüringen ist in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft gestiegen, während die der öffentlichen Schulen sank. Die Entwicklung in Zahlen:

  • Im Schuljahr 2008/2009 gab es 888 staatliche und 141 Schulen in freier Trägerschaft. Im Schuljahr 2018/2019 waren es noch 819 staatliche und 171 freie Schulen.
  • In den vergangenen zehn Jahren entstanden damit im Freistaat 30 neue freie Schulen; davon waren 19 Gemeinschaftsschulen. Die Zahl der staatlichen Schulen nahm im selben Zeitraum um 69 ab.
  • Im abgelaufenen Schuljahr lernten 26.998 Mädchen und Jungen an freien Schulen, 217.087 Kinder und Jugendliche an den staatlichen Schulen. Zehn Jahre zuvor waren es 22.613 Schüler an freien und 228.722 Schüler an staatlichen Schulen.
  • Damit hat sich die Schülerzahl an den freien Schulen in den vergangenen zehn Jahren um 4385 vergrößert, die an den staatlichen Schulen um 11.636 verringert.

Wie viele Schüler lernen aktuell in Privatschulen?

  • Für NORDRHEIN-WESTFALEN meldet das Statistikamt IT.NRW steigende Zahlen. Zuletzt lernten dort demnach fast 163 100 Schüler an einer privaten Ersatzschule - 0,3 Prozent mehr als 2017/18. An der Schülergesamtzahl mache der Anteil der Privatschüler 8,6 Prozent aus - und sei vor allem bei Gymnasien mit 16,8 Prozent hoch. Nicht enthalten sind Berufs- und Weiterbildungskollegs, Förderschulen nur zu einem Teilbereich. Das Düsseldorfer Schulministerium zählt anders, kommt auf sogar 208.000 Privatschüler, aber einen „leicht rückläufigen“ Trend. Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) sieht die Privaten als eine Ergänzung, eine „gute und erfolgreiche Bildungsbiografie“ sei an allen Schulformen möglich.
  • In BAYERN gingen im Schuljahr 2018/19 knapp 146.800 Kinder und Jugendliche in eine der 625 Privatschulen. Das macht einen vergleichsweise hohen Anteil von 11,7 Prozent aus. Zur Motivation der Eltern heißt es beim dortigen Lehrerverband, viele wollten ihre Kinder vor dem in Bayern besonders leistungsorientierten System der öffentlichen Schulen bewahren. Es gebe aber auch elitär ausgerichtete Gründe. Von einer „bedauerlichen Entwicklung“ spricht der Landeselternverband. Eltern gingen wohl von besserer Förderung und Geborgenheit bei privaten Trägern aus.
  • In HESSEN verzeichnete das Kultusministerium einen leichten, kontinuierlichen Anstieg: Dort besuchten nahezu 54 700 Heranwachsende eine allgemeinbildende Schule in privater Trägerschaft - ein Anteil von gut 7 Prozent. Viele Eltern hätten Interesse an Reformpädagogik, meint die Arbeitsgemeinschaft der freien Schulen. Auch die GEW in Hessen verlangt eine Stärkung des öffentlichen Systems. Die Privaten könnten mit kleinen Klassen und umfangreicher Betreuung punkten.
  • In BADEN-WÜRTTEMBERG hat die Zahl der Privatschüler einen Höchststand erreicht. Rund 106.800 Schüler besuchten eine allgemeinbildende Privatschule - 0,8 Prozent mehr als 2017/18. Nach Einschätzung der dortigen GEW wollen Eltern über das Umfeld ihrer Kinder bestimmen. „Und private Schulen wählen nach Milieu oder auch nach Religion aus.“ In RHEINLAND-PFALZ bewegt sich die Privatschüler-Quote in Richtung 8 Prozent, aus dem SAARLAND wird eine konstante Zahl von knapp 8600 Privatschülern gemeldet.
  • In BREMEN herrscht zwar große Unzufriedenheit mit den öffentlichen Schulen, einen Ansturm auf die Privaten gibt es trotzdem nicht. Laut Bildungsverwaltung besucht immerhin etwa jeder zehnte Schüler eine Privatschule. In NIEDERSACHSEN blieb die Zahl der Privatschüler konstant. Das Bildungsministerium in SCHLESWIG-HOLSTEIN hält die Ersatzschulen für „eine gute Ergänzung des öffentlichen Bildungssystems“. Dort lernen nur 5 Prozent der Schüler an Privatschulen. HAMBURG meldet „konstanten Zulauf“.
  • In BERLIN besuchen rund 37.000 Schüler Privatschulen - ein Anteil von rund 10 Prozent. In BRANDENBURGist der Anteil binnen zehn Jahren von 8 Prozent auf aktuell gut 11 Prozent geklettert - was nach Einschätzung des Bildungsministeriums an besonderen Konzepten oder schlicht am kurzem Schulweg liegen könnte.
  • Auch in SACHSEN-ANHALT liegen Privatschulen im Trend. Ebenso in THÜRINGEN, wo mehr als jeder zehnte Schüler an einer privaten Schule lernt - Tendenz steigend. Das Milieu sei geprägt von einer gut situierten Elternschaft mit hohem Bildungsabschluss, meint die dortige GEW. Die Evangelische Schulstiftung verweist aber auf sozial gestaffeltes Schulgeld und gemischte Elternschaft.

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