Steffen Eß über das Geheimnis des Dart-Sports.

Neujahrsmorgen vor ein paar Jahren, gegen drei. Der erste Wurf, dreifach zwanzig, der zweite, wieder drin. Steffen M. kann es kaum fassen. Dass er dieses kleine Feld auf der Dartscheibe trifft, ist selten. Nun stecken zwei Pfeile in dem Segment mit der Maximalwertung. Vor Aufregung bricht er den letzten Wurf ab, nimmt Maß. Drin. „180.“ Mehr geht nicht mit drei Darts, seine ersten perfekten. Gut 40 Lebensjahre hat er hinter sich. Er rennt durchs Lokal wie ein Derwisch, brüllt, dass die Schornsteine im Dorf nahe Erfurt wackeln.

Der Darts-Sport, der alljährlich am Neujahrstag seinen Showdown erlebt und weltweit elektrisiert, ist in Deutschland angekommen, in Thüringen. Die Begeisterung wird riesig sein, wenn Weltmeister Peter Wright vom 10. bis 12. Juli bei den German Open in Jena mitspielt.

Ein Kneipensport erobert die Weltbühne. Mehr als zwei Millionen schauten in Deutschland zu, wie Peter „Snakebite“ Wright im WM-Finale in seinen knallbunten Hosen und diesmal violetter Irokesenfrisur den gewöhnlich wie eine Maschine treffenden Titelverteidiger Michael van Gerwen entthronte. Noch nie ist so umfangreich berichtet worden über das Spicker-Spektakel aus dem Alexandra Palace im Norden Londons. Kaum einen scheint das Präzisionsspiel der meist gut bebauchten Profis kalt zu lassen.

Es ist eine Mischung aus Show, aus Kirmes für das berauscht johlende Publikum und aus der Kunst der Spieler, ihre Darts so genau zu platzieren, dass sie mitunter auf ein Cent-Stück passten. 851 Mal durften die 3000 Fans zuletzt im „Ally Pally“ das berühmte „Onehundred-andeighty“ nach einer 180 grölen. Neunmal jubelten sie in der Turniergeschichte über ein perfektes Spiel. Der Neun-Darter kommt zustande, wenn die Spieler von 501 Punkten mit neun Pfeilen auf null kommen. Der letzte Pfeil muss in einem Doppel-Feld stecken.

Für Professor Metin Tolan von der Technischen Universität Dortmund ist diese Präzision, mit der die Top-Spieler aus 2,37 Meter Entfernung in das nur 3,2 mal 0,8 Zentimeter große Dreifachfeld der 20 treffen, physikalisch kaum erklärbar. „Wenn man die Genauigkeit und Konstanz, mit der die Spieler werfen, mit einer Maschine erreichen wollte, dann hätte man größte Schwierigkeiten, eine solche Maschine zu bauen“, wird er zitiert. Die Exaktheit ist umso erstaunlicher, weil hinter der Aufteilung der Felder von der eins bis zur zwanzig pure Gemeinheit steckt. Ziel der Anordnung ist maximales Chaos. Und die Strafe soll im Verhältnis zum maximal erreichbaren Ergebnis ausfallen. Verfehlt der Spieler etwa knapp das begehrte Zwanziger-Segment, trifft der Pfeil die eins oder fünf. Der 1896 von Brian Gamlin entworfenen Scheibe wird nahezu mathematische Perfektion nachgesagt. Das Spiel selbst ist simpel: ein bisschen werfen, rechnen. Es ermöglicht Laien, Fortgeschrittene zu besiegen. Darts – die Mutter des Anfängerglücks. Ein blutiger Anfänger könne laut Tolan recht schnell die „Schimpansen-Grenze“ von 38,4 Punkten übertreffen. Das sei der Durchschnittswert, träfe der Spieler mit drei Pfeilen beständig die Scheibe, ohne groß über die unterschiedliche Wertigkeit nachzudenken.

Barry Hearn sah riesiges Potenzial im Darts. Dem Promoter gelang ein goldener Zug, indem er der WM 2007 die Bühne im Alexandra Palace bereitete – weg von der Circus Tavern in Purfleet. Die Kneipenspickerei im Fernsehformat; in der Weihnachtszeit, in der anderer Sport wenig bietet. Im Mantel eines Kostümballs geht es um Millionen, um mentale Stärke und einen massigen 25-Kilo-Pokal.

Vielleicht sind es die Geschichten, die für die Einzigartigkeit des Darts stehen. Die Episoden um einen zuvor ewigen Zweiten wie Wright, der ärmlich aufwächst und seine Pfeile auf Bäume schmeißt. Die Geschichte vom märchenhaften Aufstieg der alleinerziehenden Friseurin Fallon Sherrock, die als erste Frau bei der Darts-WM einen Mann geschlagen hat.

Vielleicht ist es vor allem das Spiel, rein und unrein zugleich, das so anzieht. Das in seiner Schlichtheit jeden mitreden lässt und trotz aller bierseligen Atmosphäre großen Sport darstellt. Ein Spiel, in dem Treffgenauigkeit jahrelanges Training voraussetzt, das einem für den Moment der 180 dennoch ein Gefühl vermittelt, ein bisschen weltmeisterlich zu sein. Das Einfache ist das Zeichen des Wahren, besagt ein lateinisches Sprichwort.

Oft ist das Einfache einfach gut.