Steffen Eß über das, was wäre, was ist und was im Sport sein wird.

München, 70.000 in der Allianz Arena, Millionen vor den Fernsehern, volle Biergärten, getaucht in Schwarz-Rot-Gold: Der 24. Juni 2020 hätte ein herrlicher Fußball-Tag werden können.

Unter Umständen wäre es heute für die deutsche Nationalmannschaft um alles bei dieser Pan-Europameisterschaft gegangen. Die letzten Vorrundenspiele: In der Hammergruppe F Weltmeister Frankreich gegen Europameister Portugal in Budapest; Deutschland in der Bayern-Metropole gegen einen der Playoff-Qualifikanten. Vielleicht Ungarn, vielleicht Rumänien, Bulgarien, Weißrussland oder Georgien.

Deutschland gegen Ungarn. Das hätte Charme. Das lässt Platz für Fantasie, wie es heute hätte sein können. Frankreich, Deutschland, Portugal und Ungarn – alle mit drei Punkten, für alle geht es ums Viertelfinale. 66 Jahre nach dem Wunder von Bern trifft Deutschland mit dem vielleicht jüngsten Team aller Zeiten auf abgezockte Magyaren. Stoff für große Geschichten.

In irgendeinem Fernsehstudio würde wahrscheinlich Lothar Matthäus sitzen. Der Weltmeister, der 150-mal das DFB-Trikot trug, würde aus anderthalb Jahren als ungarischer Nationaltrainer plaudern. Er würde natürlich dazu befragt werden, wie er mit den Ungarn die Deutschen am 6. Juni 2004 zum Jubiläum 50 Jahre WM-Finale von 1954 mit einem 2:0 überrascht hatte. Und vielleicht steht am Ende eine Bemerkung, die auf Jahre an diesen Abend erinnert.

Oder, oder, oder. Alles offen. Die im März geplanten Playoff-Spiele sind auf November vertagt. Das EM-Turnier ist wie einiges um zwölf Monate verschoben.

Die Ausfallliste infolge der Virus-Ausbreitung liest sich seit März wenig spaßig – wie ein Ableben des Weltsports. Keine Tischtennis-WM, die Formel 1 – abgewürgt in der Boxengasse. Keine Weltmeister im Eiskunstlauf und Eishockey, keine Schwimm- und Leichtathletik-EM, kein Chio in Aachen, die Tour de France hätte am Samstag beginnen sollen, die All England Championships in Wimbledon am Montag. Der Sommer 2020 ohne olympisches Feuer. Das Sportjahr ist eines ohne den Glanz ganz großer Wettkämpfe. Aber kein verlorenes.

Wer die Qualifikation für Tokio verpasst hat, bekommt immerhin eine neue Chance und ein Jahr mehr Vorbereitung. Für diejenigen, die das Karriereende damit verbanden, bleibt wohl nur eine stille Bühne des Abschieds.

München muss noch auf die EM warten. Der Fußballfan bekommt derweil ein bisschen Bundesliga-Spektakel nachgereicht. Der FC Bayern bejubelt sich nur mal allein für seinen Jubiläumstitel und belohnt sich abstandsgemäß mit einem Meistermenü statt Marienplatz-Sause. Bremen kämpft ums Überleben. Und der Hamburger SV? Der scheitert an sich selbst. Der einstige Bundesliga-Dino, der sich zuverlässig durchgehangelt hat, bis die Uhr 2018 nach 54 Jahren und 261 Tagen abgelaufen war, ist eine Etage tiefer dabei, eine nächste Aufstiegschance zu vergeigen. Nur ohne Zuschauer.

Vorm Hintergrund leerer Stadien wird manch Sportmoment des Jahres 2020 eigenartige Bilder liefern, zeitversetzt mit Höhepunkt an Höhepunkt. Wenn die Radprofis bei der Tour de France am 20. September den Triumphbogen in Paris hinter sich lassen, schlagen die Tennis-Profis bei den French Open auf. Frühjahrs- und Sommerklassiker bringen im Herbst Farbe – und den Terminkalender zum Überquellen.

Die Schwimm-EM vom Mai in den August, die Vuelta vom August in den Oktober. Die europäischen Klubwettbewerbe im Handball sollen Mitte September beginnen. Dann wären die Finals der Königsklasse 2019/20 noch nicht gespielt. Das Final Four der Männer ist erst für Ende Dezember vorgesehen.

Sofern die Behörden zustimmen, rollt der Ball in drei Monaten in den Bundesligen von Hand- und Volleyball. Den Überblick zu behalten fällt schwer. Auf Jahre wirken sich die Ausfälle durch Corona aus. Die 2021 geplanten Weltmeisterschaften der Schwimmer und Leichtathleten finden wegen der verlegten Olympischen Spiele 2022 statt. Die Fußball-EM der Frauen? Ebenso verschoben. Die aufgeblähte Fifa-Klub-WM muss der EM weichen.

Dafür Daumendrücken für Deutschland, 23. Juni 2021, Gruppenfinale in München. Vielleicht gegen Ungarn.

Der Sommer 2021 wird heiß und der Herbst zuvor kunterbunt.