Berlin. Nach der Tat von Hamburg fordern viele schärfere Maßnahmen im Bereich Waffenbesitz. Doch manche warnen vor einer „Scheinsicherheit“.

Es gibt diesen Mythos: Amoktaten lassen sich nicht verhindern, heißt es. Das stimmt nicht. Die Forschung erkennt bei Täterinnen und Tätern „Warnsignale“ im Verhalten – Drohungen, die Verwandte wahrnehmen. Menschen, die sich stark isolieren, in einen Wahn fallen. Personen, die sich eine Waffe besorgen. Bei dem Attentat von Hamburg hatte es diese Warnsignale gegeben. Die Waffenbehörde war alarmiert durch einen anonymen Tippgeber – und erkannte die Gefahr dennoch nicht. Lesen Sie auch: Welche Warnsignale senden Amoktäter im Umfeld aus?

Sieben Menschen, alle Mitglieder der Zeugen Jehovas, und der Angreifer sind tot, eine Person schwebt Tage danach noch in Lebensgefahr. Politisch lebt die Debatte auf, ob ein schärferes Waffenrecht jetzt die Konsequenz sein muss. Ob das Gesetz Amok- und Terrorattacken verhindern kann. Oder besser: Wie sehr das Recht Risiken minimieren kann und soll.

Es ist eine Debatte, die seit Jahren immer wieder aufflammt, in der mächtige Lobbyinteressen auf wütende Laien treffen. Eine Debatte, bei der auch in der aktuellen Regierungskoalition keine Einigkeit herrscht. Und das, obwohl es immer wieder zu schweren Straftaten mit Schusswaffen und vielen Toten kommt. So wie jetzt in Hamburg.

Die Gegenspieler: Nancy Faeser und Marco Buschmann

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) sind uneins in der Frage nach verschärften Gesetzen. Faeser hat einen Referentenentwurf für ein neues Waffenrecht vorgelegt. Zentraler Punkt: Jeder, der eine Waffe beantragt, muss ein psychologisches Gutachten bei der zuständigen Behörde vorlegen. Bisher gilt das nur für Menschen unter 25 Jahre.

Neu auch: Die Waffenbehörden sollen regelmäßig mehr Daten von anderen Behörden über Auffälligkeiten eines Schusswaffen-Besitzers bekommen – etwa von der Polizei, aber auch von Gesundheitsämtern und Ordnungsämtern. Kriegsähnliche halbautomatische Gewehre will Faeser im Privatbesitz ganz verbieten.

Nach der Gewalttat in Hamburg besuchten Hamburgs Innensenator Andy Grote und Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Gemeindesaal der Zeugen Jehovas.
Nach der Gewalttat in Hamburg besuchten Hamburgs Innensenator Andy Grote und Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Gemeindesaal der Zeugen Jehovas. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Die FDP ist gegen ein schärferes Waffenrecht, sieht das Problem im Vollzug bestehender Gesetze bei den überlasteten Waffenbehörden, die in den allermeisten Fällen beim Landratsamt eines Kreises angesiedelt sind. Es sind kleine Behörden im Vergleich zu den Sozialämtern oder Gesundheitsdiensten vor Ort. Vor allem die Fraktion der Liberalen im Bundestag erhöht den Druck gegen Faesers Pläne. FDP-Politiker Konstantin Kuhle warnt immer wieder vor „überhasteten Forderungen“ nach neuen Gesetzen. Er selbst war in seiner niedersächsischen Heimat Mitglied im Schützenverein.

Die Ausgangslage: Dünne Faktenlage bei der Polizei

Der allgemeine Trend scheint den Gegnern einer Verschärfung Argumente zu geben: Die Gewaltkriminalität in Deutschland geht laut Polizeistatistik seit Jahren zurück, mit einer Ausnahme im Jahr 2016. Auch die Verbrechen mit Schusswaffen sind rückläufig. 2012 registrierte die Polizei noch fast 11.000 Drohungen oder Schüsse mit Waffen, 2021 waren es knapp 8000.

Allerdings: Kriminalität zu messen, hat Tücken. Es hängt davon ab, wie stark die Polizei kontrolliert, wie sehr Menschen Gewalttaten anzeigen, und was an Gewalt im Verborgenen bleibt – im sogenannten „Dunkelfeld“. Jedenfalls aber deuten Statistik und auch kriminologische Studien auf ein Deutschland hin, das weniger Gewalt mit Waffen erlebt.

Zurückhaltend bei Verschärfungen: Bundesjustizminister Marco Buschmann und seine FDP.
Zurückhaltend bei Verschärfungen: Bundesjustizminister Marco Buschmann und seine FDP. © AFP | KENZO TRIBOUILLARD

Zugleich aber erschüttern Fälle wie die brutale Tat von Hamburg dieses Sicherheitsgefühl. Amoktaten und Terrorangriffe sind extreme Einzelfälle, doch gerade wenn Schusswaffen zum Einsatz kommen, ist die Opferzahl hoch. Die Brisanz der Tat speist sich daraus, dass Unschuldige sterben – die Taten können, zumindest theoretisch, jeden treffen. Sie verunsichern, und erhöhen den Druck zu staatlicher Intervention. Lesen Sie auch:Wie Neonazis in Deutschland für den „Tag X“ trainieren

Ein weiteres Problem der Zahlen aber ist: Das Bundesinnenministerium weiß nach eigenen Angaben gar nicht, wie viele Straftaten mit legalen Waffen verübt werden, die sich vielleicht mit einem schärferen Gesetz eindämmen ließen. Zwar registriere die Polizei die Schusswaffen-Gewalt, messe aber nicht, ob die Tatwaffe legal im Besitz des Täters war, teilt eine Sprecherin auf Nachfrage unserer Redaktion mit.

Die Manipulation von illegalen Waffen macht dem BKA Sorgen

Auch wissen die Sicherheitsbehörden nicht, wie viele der Gewalttaten mit Schusswaffe überhaupt tödlich enden. Die Datenlage ist dünn. Im Koalitionsvertrag kündigten SPD, Grüne und FDP eine „Evaluierung“ des Waffenrechts an, auch die Erfassung der Waffenkriminalität soll verbessert werden. Ergebnisse sind noch nicht bekannt.

Das Lagebild des Bundeskriminalamtes (BKA) deutet darauf hin, dass die Polizei vor allem ein Problem mit illegal beschafften Waffen hat, es warnt vor organisiertem Handel mit Pistolen und Gewehren vom Westbalkan, wo seit den Jugoslawien-Kriegen eine hohe Waffendichte herrscht. Das BKA sieht zudem einen wachsenden Waffenhandel auf Plattformen im verschlüsselten Darknet. Dort beschaffte auch der rechtsextreme Attentäter, der 2016 in München neun Menschen tötete, eine Pistole.

Auch der Umbau und die Manipulation von Pistolen sowie die Herstellung von Waffen mithilfe moderner 3D-Drucker besorgt die Polizei. Das alles ist illegal, vom Waffenrecht ohnehin unberührt. Vom Missbrauch legaler Waffen steht in dem BKA-Lagebild nichts. Einerseits. Andererseits gibt es die Taten: 2002 in Erfurt, 2009 in Winnenden, 2019 in Hanau, 2022 in Kusel, jetzt Hamburg.

Trauer nach der Bluttat in Hamburg: Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas.
Trauer nach der Bluttat in Hamburg: Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas. © dpa | Marcus Brandt

Immer war der Täter oder jemand in der Familie im Besitz einer Waffenerlaubnis, gelangte der Schütze „legal“ an die Tatwaffen – und nicht über das Darknet oder kriminelle Händler. Die Kriminologin Britta Bannenberg befasst sich seit vielen Jahren mit Attentaten, speziell Amokläufen. Sie hat 21 Fälle in Deutschland seit 1992 ausgewertet. Bei zwölf Attentaten kamen Schusswaffen zum Einsatz, 54 Menschen starben. Bei den anderen neun Fällen starben sechs Menschen.

Relevant ist der Fokus auf die Psyche der potenziellen Täter

Bannenberg sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Das Ziel muss deshalb sein, tatgeneigten Gewalttätern den Zugang zu Schusswaffen bestmöglich zu verwehren.“ Anders als organisierte Terroristen seien Hürden und Hemmungen eines Amoktäters deutlich größer, sich illegal auf dem Schwarzmarkt eine Schusswaffe zu besorgen. Amoktäter gehen – anders als Terroristen – demnach öfter den legalen Weg, um an Waffen zu kommen. Der Attentäter von Hamburg ging in einen Schützenverein, erfüllte alle Auflagen für eine Waffenerlaubnis. Im Dezember kaufte er die Pistole P30. Lesen Sie auch:Amoklauf bei Zeugen Jehovas: der aktuelle Ermittlungsstand

Bei terroristischen Attentaten wiederum zeigt sich zum einen, dass die Täter ihre Waffen sowohl legal, als auch illegal besorgen. Durch mediale Inszenierung von Terrortaten etwa auf sozialen Plattformen wurden Tatwaffen zum Teil der Terror-Strategie. Im Gesetzentwurf von Faeser, der unserer Redaktion vorliegt, heißt es, dass „kriegswaffenähnliche halbautomatische Feuerwaffen“ besonders „anziehend“ auf bestimmte Täter wirken, etwa die Rechtsterroristen von Utoya in Norwegen oder Christchurch in Neuseeland. Faeser will diesen Gewehrtyp künftig für den Privatbesitz verbieten.

Schwierige Suche nach einer Lösung der Waffen-Frage

Deutschland hat im internationalen Vergleich eine hohe Dichte an Waffen im Privatbesitzt, aber auch ein striktes Waffenrecht. Mehrfach wurde es verschärft, zuletzt 2020. Die Tat von Hamburg passierte dennoch – allerdings lässt sich eben auch nicht messen, welche Gewalttaten verhindert wurden. Die einen sagen: ein schärferes Waffenrecht hilft. Die anderen sagen: bestehende Gesetze sind ausreichend, müssen nur umgesetzt werden.

Die Debatte lässt sich auf diesen Kern bringen. Doch die Welt des Waffenrechts dahinter ist komplexer. Relevant ist vor allem der Fokus auf die Psyche der Täter. Kriminologinnen wie Bannenberg, aber auch Sicherheitsfachleute sehen eine engere Verknüpfung von Gewalttaten und psychischen Erkrankungen der Täter. In prominenten Fällen wie den Messerattacken von Würzburg und Brokstedt waren die Täter vor der Tat auffällig und in psychiatrischer Behandlung.

Amokprozess 2011 im Fall Winnenden: der Vorsitzende Richter Reiner Skujat (M.) in Stuttgart während des Prozesses gegen den Vater des Täters. Der Sohn war an die legale Waffe des Vaters gelangt.
Amokprozess 2011 im Fall Winnenden: der Vorsitzende Richter Reiner Skujat (M.) in Stuttgart während des Prozesses gegen den Vater des Täters. Der Sohn war an die legale Waffe des Vaters gelangt. © dapd | Daniel Kopatsch

Auch die Hamburger Ermittler gehen nach dem Attentat auf die Zeugen Jehovas der Spur nach der Psyche des Täters nach. Die Corona-Pandemie sowie eine Verrohung der Gesellschaft, aber auch der fehlende Anschluss einzelner an das soziale Umfeld hätten zuletzt den psychologischen Faktor bei Tätern bestärkt, sagen Fachleute. Gerade aufgrund dieser Trends drängt Innenministerin Faeser auf eine neue Macht der Gesundheitsämter bei der Waffenkontrolle – und will verpflichtende Gutachten vor jeder Erlaubnis.

Gesundheitsämter sollen Waffenbehörden neue Erkenntnisse mitteilen

Laut Gesetzentwurf wäre jede und jeder Antragsteller vorab verpflichtet, sich durch einen Facharzt oder einen Amtsarzt vor Ort psychologisch untersuchen zu lassen. Wer auffällig ist, erhält keine Waffe. Zudem sollen die Gesundheitsämter regelmäßig den Waffenbehörden neue Erkenntnisse über psychische Erkrankungen der Person mitteilen – auch wenn sie die Waffe schon besitzt. Das ist so relevant wie heikel. Es geht um sensible Daten. Zugleich ist auch der Besitz einer Schusswaffe hochsensibel.

Jagen, Sportschießen und Waffenkult: Fünf Millionen Waffen sind in Deutschland registriert, viele Schützen sind in Vereinen organisiert – hier mit einer gerade frisch gewählten Schützenkönigin in einem Schützenverein in Bayern.
Jagen, Sportschießen und Waffenkult: Fünf Millionen Waffen sind in Deutschland registriert, viele Schützen sind in Vereinen organisiert – hier mit einer gerade frisch gewählten Schützenkönigin in einem Schützenverein in Bayern. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Der Deutsche Landkreistag, der mit vielen Mitarbeitenden der lokalen Waffenbehörden spricht, zeigt sich einerseits offen für strengere Gesetze – mahnt zugleich aber vor vorschnellen Entscheidungen. „Für uns sind Verschärfungen im Waffenrecht kein Tabu. Das gilt vor allem für das Verbot halbautomatischer Schusswaffen. Wir mahnen jedoch zugleich zur Sorgfalt“, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Kay Ruge, unserer Redaktion.

„Eine Regelabfrage zu psychischen Erkrankungen bei den Gesundheitsbehörden ist durch die Waffenbehörden vor Ort ein Mehraufwand, der aber leistbar ist.“ Problematisch könne allerdings die Begutachtung vor der Erteilung der Waffenerlaubnis werden. „Die Gutachten würden nur eine bloße Momentaufnahme darstellen und damit lediglich eine Scheinsicherheit vermitteln. Bereits jetzt werden Zuverlässigkeit und persönliche Eignung ausführlich überprüft.“

Erfolgreiche deutsche Schützen: fünf Medaillen bei den Olympischen Spielen in Rio

Unklar ist nach Einschätzungen von Fachleuten auch, ob das örtliche Gesundheitsamt überhaupt immer über relevante Informationen etwa zu einer psychischen Therapie einer Person erfährt – die ärztliche Schweigepflicht ist ein hohes Gut.

In Deutschland sind rund fünf Millionen Waffen legal gemeldet – im Nationalen Waffenregister, das 2013 eingeführt wurde, finden sich Jäger und Sportschützen, aber auch einzelne Sammler. Deutschland ist eine erfolgreiche Schießnation, darauf verweist der Deutsche Schützenbund (DSB). 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio gab es fünf Medaillen: unter anderem Gold mit der Schnellfeuerpistole.

Eine Idee, die Waffen nicht bei den Besitzern zuhause, sondern in den Schützenvereinen zu lagern, lehnen alle Seiten ab. Aufwendige Sicherheitsschränke sind zu teuer für kleine Vereine, zugleich ist das Ziel für Waffendiebe groß, wenn in einer Kammer in einer mäßig gesicherten Schießanlage mehrere Hundert Pistolen und Gewehre lagern.

Blumen und Kerzen liegen 2016 vor dem Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) in München, vier Tage nach einer Schießerei mit Toten und Verletzten. Heute steht fest: der rechtsextrem eingestellte Täter besorgte sich die Waffe im verschlüsselten Darknet.
Blumen und Kerzen liegen 2016 vor dem Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) in München, vier Tage nach einer Schießerei mit Toten und Verletzten. Heute steht fest: der rechtsextrem eingestellte Täter besorgte sich die Waffe im verschlüsselten Darknet. © dpa | Sven Hoppe

Innenministerin Faeser ist auch Sportministerin – aber die Sportschützen sehen sich mit ihren Plänen einem „Generalverdacht“ ausgesetzt, nennen psychologische Gutachten für alle „unverhältnismäßig“. Ähnlich wie die FDP sieht ein Sprecher des DSB kein „Gesetzesdefizit“, sondern ein „Vollzugsdefizit“. Er schreibt auf Anfrage: „Es gibt zahlreiche Waffenbehörden in Deutschland, die personell völlig unterbesetzt, oftmals qualitativ überfordert und nicht untereinander vernetzt sind.“

Tatsächlich fehlte in der Vergangenheit oft der Austausch zwischen Behörden, gerade über Landesgrenzen hinweg. Die mangelnde digitale Vernetzung ist die Achillesferse der deutschen Sicherheitspolitik. Schon die Entwaffnung rechtsextremer „Reichsbürger“ scheitert immer wieder – laut einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag konnten Behörden zwar mehr als 1000 von ihnen entwaffnen, doch noch immer sind etwa 500 „Reichsbürger“ im Besitz einer Waffenlizenz.

Kriminologin fordert eine bessere Schulung der Beamten in den Waffenbehörden

Kriminologin Bannenberg will im Kampf gegen Schusswaffen-Gewalt nicht nur bei schärferen Gesetzen ansetzen, sondern auch das Personal in den Sicherheitsbehörden besser schulen. Amokläufe und Terrortaten seien seltene Fälle im Polizeialltag, es fehlt an Routine im Umgang mit diesen Tätertypen. Bannenberg fordert, dass Kriminalpsychologen der Polizei und die jeweilige Waffenbehörde in konkreteren Verdachtsfällen enger im Austausch stehen. Das Kriminalamt müsse auch die zuständige Polizeidienststelle bei ernstzunehmenden Hinweisen unterstützen. Lesen Sie auch: Das Attentat von Hamburg – wie die Waffenbehörden einen wichtigen Hinweis übersah

Wie wichtig die Schulung der Mitarbeiter in den Behörden ist, zeigt auch die Tat von Hamburg. Polizei und Waffenbehörde hatten ein anonymes Hinweisschreiben auf die mögliche Gefährdung durch Philipp F. erhalten. Sie überprüften den Fall, besuchten den späteren Täter noch wenige Wochen vor der Tat zuhause, recherchierten zu ihm im Internet. Den entscheidenden Hinweis auf das krude und verschwörungsideologische Buch, das Philipp F. geschrieben und im Internet prominent beworben hatte, entdeckten sie nicht.

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