Brüssel. Der Vertrag über nuklear-bestückte Mittelstreckenraketen läuft aus. Russland stationiert neue Raketen. Was macht die Nato?

Im Namen der gesamten Europäischen Union schlug die EU-Außenbeauftragte Federica Moghe­rini Alarm: Die EU sei über das drohende Auslaufen des INF-Abrüstungsvertrags Anfang August „zutiefst besorgt“, ein neues Wettrüsten drohe. Der wichtige Baustein der europäischen Sicherheitsarchitektur müsse unbedingt erhalten werden, mahnte Mogherini, Russland müsse alle Bedenken ausräumen. Ähnlich klang Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: Russland müsse jetzt schnellstens zur Vertragseinhaltung zurückkehren.

Doch die Appelle von Nato und EU galten zuletzt nur noch dem Publikum in West und Ost. Hinter den Kulissen wird im westlichen Bündnis und bei EU-Diplomaten kein Zweifel gelassen: Der historische Atom-Abrüstungsvertrag ist tot, als Konsequenz droht eine neue Aufrüstung in Europa, wenn auch nicht zwingend mit Atomraketen.

Eine Zäsur für die Sicherheitspolitik

Am 2. August läuft die sechsmonatige Kündigungsfrist aus, doch die allerletzte Chance, das INF-Abkommen zu retten, wurde schon Anfang Juli beim Nato-Russland-Rat in Brüssel vertan. Die in der Nato-Zentrale versammelten Militärdiplomaten beider Seiten waren sich der historischen Bedeutung ihres Treffens bewusst – höflich im Ton, aber in der Sache kompromisslos tauschten sie dennoch nur die bekannten Positionen aus. Als die Gesandten auseinandergingen, war das Ende des Abrüstungsvertrags besiegelt, nur sagen wollte das noch niemand.

Eine Zäsur für die Sicherheitspolitik in Europa. Mit dem INF-Vertrag hatten die USA und die damalige Sowjetunion vor gut 30 Jahren den Rüstungswettlauf in Europa beendet: Beide Seiten verpflichteten sich, alle landgestützten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern zu zerstören. Das erste und einzige Mal wurde eine ganze Kategorie von Atomwaffen abgeschafft.

Umstrittene Waffe: Ein russischer Offizier neben einem Marschflugkörper vom Typ 9M729 (Nato-Code: SSC-8).
Umstrittene Waffe: Ein russischer Offizier neben einem Marschflugkörper vom Typ 9M729 (Nato-Code: SSC-8). © Pavel Golovkin

Droht jetzt ein neuer Kalter Krieg? Nato-Strategen winken ab, die Situation sei nicht vergleichbar, auch wenn der russische Vize-Außenminister Sergei Rjabkow schon vor einer Raketenkrise wie in Kuba 1962 mit umgekehrten Vorzeichen warnt.

Aber: Eine neue Spirale der Aufrüstung in Europa steht bevor – die Vorbereitungen haben begonnen. Die USA hatten die Kündigung im Februar damit begründet, dass Russland das Abkommen seit Jahren mit einem neuen Mittelstreckensystem (Nato-Code SSC-8) verletze. Moskau habe die landgestützten, mit Atomsprengköpfen bestückbaren Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 2400 Kilometern getestet und bereits stationiert.

Marschflugkörper könnten fast ganz Westeuropa erreichen

Der Kreml versichert, die Raketen könnten nur 480 Kilometer weit fliegen, würden also vom Verbot gar nicht erfasst. Zugleich wirft sie den USA vor, ihr Raketenabwehrsystem in Rumänien und Polen könne auch für den Abschuss von Marschflugkörpern verwendet werden, was Washington bestreitet. Nach westlichen Geheimdienstinformationen stehen die Raketen-Bataillone in Jekaterinburg östlich des Ural, auf einem Testgelände am Kaspischen Meer, in der Nähe von Moskau und in Nordossetien.

Die mindestens 64 Marschflugkörper könnten ganz Westeuropa mit Ausnahme Portugals erreichen. Landgestützte Raketen, auf mobilen Startrampen gut getarnt und schnell verlegbar, sind ein Problem für jede Abwehr. Nato-Strategen fürchten, Moskau wolle mit den neuen Waffen die Fähigkeit ausbauen, einen konventionellen Angriff etwa auf das Baltikum abzusichern, indem es mit einem Atomwaffeneinsatz droht.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagt: „Wir müssen uns auf eine Zeit ohne Vertrag vorbereiten, die weniger Stabilität für uns alle bringt.“ Wenn der Vertrag am 2. August Geschichte ist, haben die Russen erst mal einen Zeitvorteil, heißt es in der Nato. Sie können die Stationierung der entwickelten Raketen vorantreiben. Aber auch die Nato hat sich vorbereitet, über die streng vertraulichen Pläne haben die Verteidigungsminister bereits beraten.

Verstärkt werden soll die Überwachung und Aufklärung

Die Nato wolle keinen neuen Rüstungswettlauf, wird in Brüssel versichert. Daher sei zunächst ausgeschlossen, dass die USA als Antwort wieder atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationieren könnten. Derzeit stünden sie auch nicht zur Verfügung. Das Pentagon will aber mit dem Bau solcher Waffensysteme zügig beginnen, gleich für August ist der Test eines neuen landgestützten Marschflugkörpers angekündigt, bald darauf soll eine ballistische Rakete mit einer Reichweite von 2500 Kilometern getestet werden.

Zu den aktuellen Überlegungen zählt aber nach Informationen aus Nato-Kreisen, verstärkt US-Schiffe mit seegestützten Raketen nach Europa zu verlegen und die Zahl der Atombomber in der Region zu erhöhen. Klar ist damit, dass die im rheinland-pfälzischen Büchel und in anderen europäischen Nato-Staaten gelagerten US-Atomraketen, die im Kriegsfall von Jagdbombern abgefeuert würden, auch hier stationiert bleiben.

Im Mittelpunkt der Überlegungen steht ein Aus- und Umbau amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Europa. Bisher sind die Anlagen in Rumänien und demnächst in Polen nach offiziellen Erklärungen auf den Schutz vor iranischen Langstreckenraketen eingestellt. Sollen die Systeme auf die Abwehr von Mittelstreckenraketen aus Russland umgerüstet oder andernorts ganz neu aufgebaut werden, wären hohe Milliardeninvestitionen erforderlich. Den finanziellen Kraftakt wird Washington nicht allein stemmen wollen, es dürfte die Nato-Partner wohl zur Kasse bitten. Überlegt wird, dass mehr Truppen als bisher an der östlichen Nato-Grenze stationiert werden, auch die Präsenz in der Ostsee soll ausgebaut werden.

Zudem ist von der Entwicklung neuer konventioneller Waffensysteme zur Abschreckung die Rede. Verstärkt werden soll die Überwachung und Aufklärung, was Spionage einschließt. Was genau getan wird, wollen die Nato-Staaten erst nach dem Auslaufen des Vertrags entscheiden. Noch wird der Eindruck aufrechterhalten, der INF-Vertrag sei zu retten: Russland müsse nur schnell seine Mittelstreckenraketen verschrotten. 1987 habe Moskau dafür auch nur wenige Wochen benötigt.