Erfurt. Ein Ministerpräsident, der nicht zur Bundesratssitzung erscheint, und Staatssekretäre, die die Handynummer ihres neuen Chefs nicht kennen. Das ist Thüringen nach dem Beben vor eineinhalb Wochen.

Das erste Mal in drei Jahrzehnten: Thüringens Stühle im Bundesrat in Berlin blieben am Freitag leer. Wie angekündigt reiste der derzeit einzige Regierungsvertreter des kleinen Freistaats, der geschäftsführende Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP), zur Tagung der Länderkammer nicht an. Kemmerich ist nach seiner Wahl vor eineinhalb Wochen, die er nur durch AfD-Stimmen gewann, eine Art Enfant terrible der deutschen Politik. Er wolle mit seinem Erscheinen nicht provozieren, begründete ein FDP-Sprecher das Fernbleiben und den Verzicht auf die Abgabe der vier Thüringer Stimmen bei den Bundesrats-Entscheidungen.

Hoffnung auf Ende der Thüringen-Krise

Der 54 Jahre alte Kemmerich - ein wortgewandter und selbstbewusster Politiker und Unternehmer - entzog sich damit auch den direkten Reaktionen seiner Amtskollegen der anderen 15 Bundesländer. Denn eigentlich wird ein Neuling in der Länderkammer besonders begrüßt. Am Freitag herrschte eher das Prinzip Hoffnung vor, dass die Thüringen-Krise vorbei geht.

„Es ist schade, dass die Bank leer ist, und ich kann nur hoffen, dass die Stimmen bald wieder da sind, denn nur so können wir ostdeutschen Länder unsere Interesse auch durchsetzen“, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Schleswig-Holsteins Regierungschef Daniel Günther (CDU) äußerte sich ähnlich. „Es ist kein gutes Zeichen, wenn zum ersten Mal im Bundesrat Sitze frei bleiben. Von daher habe ich die Hoffnung, dass das bald auch wieder anders wird.“

Amtsvorgänger Ramelow empört

Empört äußerte sich Thüringens Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) via Twitter: „So etwas hat es in 70 Jahren im Bundesrat noch nie gegeben!“ Ramelow sieht im Fehlen Thüringens ein erstes Indiz für eine heraufziehende Staatskrise. „Ich hoffe, dass jeder Landtagsabgeordnete verinnerlicht, was es heißt, wenn wir keine Landesregierung haben“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. „Wir wachsen täglich mehr in eine Staatskrise rein“, sagte er bei einem Wahlkampfauftritt in Hamburg.

Nachdem Kemmerich nach nur drei Tagen als Ministerpräsident ohne Minister zurücktrat und jetzt nur noch geschäftsführend im Amt ist, fragen sich viele, wer regiert eigentlich Thüringen? In den Gängen von Ministerien und im Landtag werden darüber teils absurd anmutende Geschichten erzählt.

Teils absurd anmutende Geschichten zur Regierungsarbeit

„Ich habe Kemmerich seit dem 5. Februar, als er uns einbestellt hat und bat, weiter Dienst für Thüringen zu tun, nicht mehr gesehen.“ Das berichtet einer der zwölf Staatssekretäre der rot-rot-grünen Vorgängerregierung, die es jetzt richten sollen. Die politischen Beamten, die in Thüringen keine Regierungsmitglieder sind, fragen schon mal Journalisten, ob sie Kemmerichs Handynummer weitergeben könnten - sie hätten sonst im Notfall keinen direkten Draht zu ihrem neuen Chef.

In der Staatskanzlei in der Erfurter Regierungsstraße war der gebürtige Aachener Kemmerich in den ersten drei Tagen nach seiner Wahl - nach seinem Rücktritt am Samstag sei er dort nicht gesehen worden, heißt es. In dieser Woche habe es nur täglich eine Telefonschalte mit ihm und Mitarbeitern der früheren politischen Schaltzentrale gegeben.

Liveblog Thüringen-Wahl: Schäuble kritisiert Einmischung von Bundespolitik in Thüringen

Diese Frauen und Männer regieren jetzt Thüringen

Für Kemmerich spricht Thomas Philipp Reiter - quasi in Personalunion als Regierungs-, Partei- und Fraktionssprecher der FDP. „Herr Kemmerich stellt sicher, dass alle nötigen Aufgaben wahrgenommen werden“, sagte Reiter. Er wirbt um Verständnis, dass der geschäftsführende Ministerpräsident derzeit keine öffentlichen Termine wahrnehme und sich auch nicht äußere.

Nach massiven Anfeindungen gegen ihn und seine Familie - seine Frau wurde auf offener Straße bespuckt, seine Kinder tageweise mit Polizeischutz in die Schule gebracht - sei das doch nicht verwunderlich. „Niemand ist unverletzlich“, so Reiter. Und die Gefahr einer Thüringer Staatskrise sei doch erst dadurch entstanden, dass Kemmerich zum Rücktritt genötigt worden sei. „Dadurch ist der geplante Übergang nicht mehr möglich.“

Staatssekretäre: Bei uns läuft Geschäft normal weiter

Bedeutet das Stillstand in Thüringen? Nein, heißt es aus den Reihen der Staatssekretäre, die Parteibücher der Linken, der SPD oder der Grünen haben. „Bei uns läuft das Geschäft normal weiter. Die Verwaltung funktioniert reibungslos“, berichtete einer von ihnen. Fördermittel würden ausgezahlt, Einstellungen von Lehrern und Polizisten seien sogar möglich - schließlich habe Thüringen einen beschlossenen Haushalt für 2020. „Es gibt nur keine politischen Entscheidungen - und keine Kabinettssitzungen.“ Bei Vertretern der Vorgängerregierung ist der Spruch zu hören: „Wer regiert? Niemand. Es arbeitet Rot-Rot-Grün.“

Wie lange das Regierungs-Vakuum anhält, ist derzeit offen. Ramelow, der mit einer Stimme gegen Kemmerich verlor, will sich erneut der Ministerpräsidentenwahl stellen, wenn es für ihn eine Mehrheit ohne AfD-Stimmen gibt. Dafür sind jedoch mindestens vier Stimmen von CDU oder FDP im Landtag nötig. Ob das gelingt, könnte sich am Montag zeigen. Dann treffen sich in Erfurt Vertreter von Rot-Rot-Grün erstmals nach der desaströsen Ministerpräsidentenwahl offiziell mit der CDU.

Doch auch die steckt derzeit in einem personellen Chaos: Am Freitag kündigte Thüringens CDU-Chef Mike Mohring seinen Rückzug von der Spitze der Landespartei an - auf den Fraktionsvorsitz will er bei der nächsten Neuwahl ohnehin verzichten, hatte er schon in der vergangenen Woche erklärt.