Lindewerra. Vor genau 75 Jahren wird die Brücke von Lindewerra gesprengt. Wiederaufbau als „Brücke der Einheit“.

Wenn dieser Tage Zeitzeugen und Historiker an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren erinnern, gedenkt man in Lindewerra still der Sprengung der Werrabrücke am 8. April 1945, die Einheimische als „schlimmste Heimsuchung“ ihres Dorfes beklagen. Nur 44 Jahre hatten die Bauern Lindewerras die 1901 fertiggestellte Brücke überquert, um auf ihre Felder am linken Werraufer zu gelangen und Reisende sowie insbesondere die Stockmacher den Oberrieder Bahnhof genutzt, als sich in den Frühjahrstagen 1945 das Kriegsgeschehen in die Mitte Deutschlands verlagerte.

Am 2. April 1945, dem zweiten Ostertag, war bereits der siebenbogige Eisenbahnviadukt zwischen Lindewerra und Oberrieden von der Wehrmacht gesprengt worden. Dennoch legten am Samstag, dem 7. April, Bauern aus Lindewerra nahe der Brückentrümmer Kartoffeln, bevor die ersten amerikanischen Granaten am Feldrain explodierten.

Lindewerra als staatlich anerkannter Fremdenverkehrsort mit sechsbogiger Werrabrücke um das Jahr 1936.
Lindewerra als staatlich anerkannter Fremdenverkehrsort mit sechsbogiger Werrabrücke um das Jahr 1936. © Sammlung Josef Keppler

Aus Oberrieden (heute Hessen) kommend, zogen sich im Laufe des Tages viele Soldaten der Wehrmacht und der SS nach „Feindberührung“ über die Lindewerrsche Brücke in östliche Richtung zurück, wobei auf dem Grundstück des Stockmachers Christel Bühler, dem damals letzten Haus am Ortsausgang nach Wahlhausen, ein Trupp mit Verwundeten verblieb.

Eine fünfköpfige Pionierabteilung besetzte die Brücke, und der kommandierende Feldwebel, ein Ritterkreuzträger, verkündete dem damaligen Bürgermeister Willi Geyer, dass er den Befehl habe, die Brücke sprengfertig zu machen. Das Sonderkommando deponierte 240 kg Sprengstoff und fünf in Holzkisten verpackte Fliegerbomben zu je 125 kg auf den Brückenbögen über dem Fluss.

Mehrfach unternahmen einige Dorfbewohner verzweifelt den Versuch, die Sprengung der strategisch unbedeutenden Brücke zu verhindern. Dem Stockmacher Bernhard Brill wurde mit dem Erschießen gedroht, weil er mit anderen verabredet hatte, die Zündschnüre zu zerschneiden; weitere Bittsteller wurden verjagt. Befehlsgemäß suchten die Lindewerraer nach dem warnenden Klang des Feuerwehrhornes um Mitternacht angstvoll ihre Keller auf.

Am Sonntag, dem 8. April, war dann um 3 Uhr eine Detonation zu hören und zu spüren, die einem Erdbeben glich. Tonnenschwere Sandsteine flogen bis zu 500 Meter durch die Luft. Nur für kurze Zeit konnten Einwohner in den Morgenstunden des Sonntags die Keller verlassen, um die Folgen der Sprengung anzusehen. Fassungslos standen sie vor Wohnhäusern ohne Dachziegeln, Fenstern und Türen und stolperten entsetzt über den Schutt zu den grotesken Resten ihrer Brücke.

Noch am Vormittag begannen die Amerikaner damit, Lindewerra vom Bahnhof Oberrieden aus mit Granaten zu beschießen, wodurch weitere Häuser beschädigt wurden. Der Beschuss wurde erst in den Abendstunden eingestellt, nachdem Christel Bühlers Tochter Helga und ihre Cousine Elisabeth ein weißes Bettlaken aus dem Dachfenster gehängt hatten.

Reste der Werrabrücke in Lindewerra nach ihrer Sprengung am 8. April 1945.
Reste der Werrabrücke in Lindewerra nach ihrer Sprengung am 8. April 1945. © Sammlung Berthold Brill

Bis zum Montagmorgen hatten alle deutschen Soldaten das Dorf verlassen, und Gerüchte über die bevorstehende Besetzung kursierten. Doch erst am Abend traf auf dem jenseitigen Werraufer ein amerikanischer Panzerwagen ein, dessen Besatzung von zwei in Lindewerra internierten französischen Kriegsgefangenen in einem Kahn herübergeholt wurde. Der Bürgermeister musste die Gemeinde übergeben und versichern, dass sich keine Wehrmachtsangehörigen mehr im Dorf befänden.

Später kamen dann US-Panzer über die Straße von Wahlhausen ins Dorf. Durch die Brückensprengung und den Granatwerferbeschuss waren Schäden an 40 Gebäuden entstanden, doch es gab glücklicherweise weder Tote noch Verletzte.

Schon am 23. April 1945 hatte die Gemeindevertretung von Lindewerra den Wiederaufbau der zerstörten Brücke beschlossen, doch dieser verzögerte sich um mehr als ein halbes Jahrhundert, denn die Werra wurde hier zur Demarkationslinie zwischen sowjetischer und amerikanischer Besatzungszone erklärt und ging hernach bis 1989/90 als streng gesicherte deutsch-deutsche Staatsgrenze in die Weltgeschichte ein.

Knapp zehn Jahre nach der historischen Grenzöffnung 1989 gestaltete sich die Freigabe der neuen Werrabrücke am 17. Juli 1999 für Lindewerra und viele Gäste zu einem der glücklichsten Ereignisse der Ortsgeschichte. Das neue Bauwerk trägt seitdem den Namen „Brücke der Einheit“, verbindet wieder Lindewerra mit Oberrieden, Thüringen mit Hessen.

Josef Keppler ist Heimatforscher und der Ortschronist von Lindewerra.