Wort zum Sonntag: Anette Uhle über Gespräche und Blicke in das Innere von Menschen.
„Wir bringen Menschen zusammen, die glauben, dass sie einander nicht mögen“. Der Satz des dänischen Mitgründers der „Human Library“, Ronni Abergel, machte mich neugierig. Man geht ja doch eher Menschen aus dem Weg, die einem unsympathisch sind und auf den ersten Blick seltsam wirken. Und dann gibt es noch die, die ich meide, weil sie nicht in den eigenen weltanschaulichen, moralischen oder politischen Wertekanon passen. Aber genau das ist das Problem unseres Zusammenlebens, egal ob in der Familie, mit den Nachbarn oder auf der Arbeit. Wir gehen uns lieber aus dem Weg, als miteinander einfach mal zu reden. Einfach mal neugierig und respektvoll fragen, was das für eine Lebenswelt ist, die an dem anderen auffällt und Anstoß erregt. Vielleicht steckt da jemand ganz Neues und manch Bekanntes hinter dem äußeren Erscheinungsbild oder hinter der lästigen Eigenart.
Beim Lesen der täglichen Impulse aus meinem Fastenkalender bin ich auf diese famose Idee einer lebendigen Bibliothek gestoßen. Ich hatte davon noch nie gehört und nun geschaut, was es damit auf sich hat und wie sowas funktioniert. Ich müsste bis Hamburg oder nach München fahren, um eine solche Bibliothek zu finden. Da kann man sich Menschen quasi ausleihen. Ich hätte 30 Minuten Zeit, zu fragen und ins Gespräch zu kommen, eben in einem anderen Leben zu „lesen“. Es gibt das auch schon in kleineren Formaten, als Tagesevent in Schulen und Firmen und auf Festivals.
Lebendige Bibliothek bietet 30 Minuten Gesprächszeit an
Das ist ein gelebtes Umsetzten des Satzes aus der Bibel: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.“ (1. Sam. 16,7)
Der Vers steht in einer Geschichte, die erzählt, wie David als der jüngste und unscheinbarste Sohn eines Hirten zum König von Israel gesalbt wird, obwohl seine starken und schönen Brüder sich äußerlich viel besser als Könige gemacht hätten. Aber jenseits von allem Äußeren, wonach Menschen von anderen Menschen so gern beurteilt werden, sieht Gott in das Innere des Menschen und schätzt dieses wert.
Es gibt so viel zu entdecken, wenn ich mich nicht von äußeren Eindrücken oder Maßstäben bestimmen und leiten lasse. Wie wertvoll wird es sein, einmal mit den Herzensaugen darauf zu schauen, was mir gerade am fremden Gegenüber auffällt und aufregt. Was für spannende Geschichten gibt es da alles zu entdecken und ganz nebenbei kehrt nach dem Unbehagen und der Streitlust Frieden ein. Bleiben Sie neugierig!
Anette Uhle ist Pfarrerin der Emmausgemeinde, des Kirchspiels Goldbach/Wangenheim.