Erfurt. Eisenachs Handball-Legende Rainer Osmann über die am Mittwoch beginnende WM, die deutschen Stärken und die Rolle von Bundestrainer Alfred Gislason.


Mit dem 34:20 im EM-Qualifikationsspiel gegen Österreich haben die deutschen Handballer eine ebenso erfolgreiche
wie mühelose Generalprobe für die am Mittwoch beginnende Weltmeisterschaft in Ägypten gefeiert. Wir sprachen mit Rainer Osmann, der als ehemaliger österreichischer Nationaltrainer und Bundestrainer der Frauen beide Seiten exzellent kennt.


19:5 zur Pause, das erste österreichische Tor erst in der elften Spielminute – haben Sie als Trainer jemals so eine
Halbzeit erlebt?

Ich kann mich nicht erinnern. Das war schon unglaublich – von beiden Seiten. Deutschland hat sehr konzentriert gespielt, ohne das überbewerten zu wollen. Denn Österreich war beängstigend schwach.

Ist Deutschland gerüstet für die WM?

Ich sehe die beiden Partien gegen Österreich als zwei gute Trainingsspiele mit Wettkampfcharakter an.
Nach der langen Pause und auch angesichts der vielen Absagen war es wichtig, dass man Spielanteile
auf viele Spieler verteilen konnte.

Die deutsche Mannschaft ist auch ohne die Kieler Stars konkurrenzfähig?

Ja, das ist sie. Was wir gegen Österreich gesehen haben, ist das Ergebnis jahrelanger guter Nachwuchsarbeit im DHB. Diese sogenannte Eliteförderung wird seit zehn Jahren praktiziert. Manche Spieler sieht man ja sonst nicht, wenn die Spitze komplett da ist. Aber nun erkennt man, dass wir eine ordentliche Substanz haben, einen Kaderkreis von vielleicht 30 Spielern, bei denen das Niveau kaum abbricht.

Wie in der Fußball-Nationalmannschaft, wo Löw auch immer wieder manchen Namenlosen hervorbringt…

… oder bezogen auf Eisenach: Die haben mit Jannis Schneibel jemanden aus der Reserve der Rhein-Neckar-Löwen geholt. Der kommt nahtlos in eine Zweitligamannschaft und zeigt dort Leistung. Das unterstreicht, dass in Deutschland Potenzial da ist. Es fehlt nur leider manchmal der Mut, die jungen Leute zu bringen. Und natürlich
sind die Jungen oft auch ungeduldig. Dabei könnten sich viele Junioren über die zweite Liga Spielanteile erobern.

Bundestrainer Alfred Gislason beneiden Sie trotzdem nicht, oder?

Er tat mir in diesem ganzen Dilemma – Corona, Warteschleife, Absagen – eigentlich schon etwas leid.
Aber für ihn ist es vielleicht sogar eine ganz gute Ausgangsposition.

Weil sie ihm den Druck nimmt?

Zum einen das. Zum anderen erkennt man, wie wertvoll ein Mann mit seinen Erfahrungen in einer solchen Ausnahmelage ist. Man sieht geradezu, wie die Spieler zu ihm aufschauen und Hilfestellung erwarten. Und bei
den Spielern ist der Glaube da, diese Hilfe zu bekommen, eben weil Gislason in seiner Laufbahn so unglaublich viel erreicht hat.

Zuletzt kam Unruhe auf, für die Andreas Wolff mit seiner Kritik an den Absagen der Kieler Spieler gesorgt hat.
Wie sagen Sie zu Wolffs Schelte?

Sie ist unangebracht. In der jetzigen Situation hat jeder Mensch das Recht, für sich zu entscheiden.
Richtig war aber auch, dass Gislason daraus keine große Diskussion hat aufkommen lassen, sondern
sich weiter auf das konzentriert, was sportlich vor allen liegt.

Inzwischen steht fest, dass die WM ohne Zuschauer gespielt wird.

Eine richtige Entscheidung. Sie ist ja auch dank der Intervention zahlreicher Kapitäne beim Weltverband
erfolgt. Und auch das sind, genau wie die Kieler, die abgesagt haben, mündige Spieler, die sich um ihren
Sport Gedanken machen.

Wo steht Deutschland am Ende?

Das ist schwer einzuschätzen, ich denke aber, dass sie Richtung Halbfinale gehen werden.

Und Österreich?

Sie werden gegen die USA gewinnen und die Hauptrunde erreichen. Damit hätten sie schon ein
großes Ziel geschafft. Natürlich fehlen ihnen mit Nikola Bilyk und Janko Bozovic zwei absolute Leistungsträger.

Mit Thomas Eichberger und Daniel Dicker sind bei den Österreichern auch zwei Eisenacher dabei. Wie sehen Sie die beiden?

Bei ihnen habe ich das Gefühl, dass ihre Entwicklung noch nicht wie gewünscht vorangegangen ist. Daniel Dicker hat in Eisenach fraglos einen Schritt nach vorn gemacht. Aber er ist eben noch kein fertiger Spieler. Vielleicht braucht er mehr individuelles Training.

Hätten Sie als Klubtrainer beide guten Gewissens zur WM fahren lassen?

Ich bin da hin- und hergerissen. Mich bewegt auch die Frage: Muss die WM jetzt sein? Ich bin aber ebenso Fernsehkonsument und sage: In der trostlosen Zeit kann der Sport auch eine schöne Abwechslung sein. Aber für die Athleten besteht schon ein Risiko.

Auch wegen der enormen Belastung?

Zweifellos. Jetzt WM, im Sommer Olympia, in zwölf Monaten EM-Endrunde. Das sind drei Höhepunkte in einem Jahr, dazwischen Bundesliga und Champions League. Aber es ist nicht nur die körperliche Belastung.

Sondern?

Auch die psychische, weil ein gewisser Freiraum fehlt. Da ist die Isolation in der Blase, die hoffentlich hält. Da sind die strengeren Abläufe, die erforderlichen Tests. All das zehrt ungemein.

Wer ist Ihr WM-Favorit?

Die Kroaten werden mitmischen, die Dänen sicher auch. Die Spanier, die Norweger. Das Feld ist relativ ausgewogen. Es kommen sechs bis acht Mannschaften für den Titel in Frage. Doch über allem schwebt – WM hin, Favorit her – die Unwägbarkeit von Corona.