Dirk Pille über das deutsch-deutsche Fußball-Duell bei der WM 1974 als Comic-Geschichte.

An jenem 22. Juni 1974 flogen kurz nach neun Uhr am Abend bei unseren Nachbarn laute Jubelschreie und sogar Gegenstände durch die gute Stube. Auch ich – damals gerade zehn Jahre alt – freute mich vorm Fernseher. Jürgen Sparwasser hatte in der 77. Minute das 1:0 für die DDR gegen die BRD erzielt. Abwurf Jürgen Croy, Erich Hamann treibt den Ball unbedrängt durch das Mittelfeld, ein weiter Pass auf Jürgen Sparwasser. Der schnelle Magdeburger verlädt Berti Vogts und auch noch Keeper Sepp Maier – Tor.

Auf vier Seiten hat Zeichner Sebastien Goethals den einen entscheidenden DDR-Angriff ins Comic-Bild gesetzt. „Das Spiel der Brüder Werner“ heißt das nicht nur für Fans der Bildergeschichten spannende Buch. Ausgerechnet ein Franzose, auch wenn Philippe Collin aus dem Elsass stammt, musste um das Duell zwischen der BRD und DDR eine deutsch-deutsche Geschichte zwischen Wirklichkeit und Fiktion aufschreiben.

Collin macht das ganz gut, hat viele historische Quellen bemüht, auch wenn er gelegentlich verbal scheitert, weil er nicht in der DDR gelebt hat. Mancher Satz, ob vom Stasi-Oberst oder von DDR-Trainer „Schorsch“ Buschner, erscheint sozialistisch überdreht. Aber es kommt auch Spaß auf, wenn der Jenaer Nationaltrainer in der Abschlussbesprechung sagt: „Nur Sparwasser und Lauck werden Konter starten. Alle anderen werden verteidigen. Es wird wie in Leningrad sein. Vergesst nicht, dass der Held des sozialistischen Fußballs nicht der Stürmer, sondern der Verteidiger ist.“

Im Zentrum der wilden Story stehen die Brüder Konrad und Andreas Werner. Juden, Kriegswaisen, als Jugendliche zur Stasimitarbeit erpresst. Später glühende „Kundschafter des Friedens“. Andreas wird nach einer Spezialausbildung in Moskau Masseur und Stasispitzel im DDR-Team, Konrad als Betreuer ins DFB-Team eingeschleust. Solch ein Coup ist Erich Mielke mit seiner „Aktion Leder“ in Wahrheit wohl nicht gelungen, doch die Flucht von Fußballern, Mannschaftsbetreuern und Anhängern bei der WM in der Bundesrepublik wurde verhindert.

Die Kiste im Comic, in der der fluchtwillige Andreas nach dem Verrat seines Bruders in die DDR zurückgeschafft wird, ist laut Historikern keine Erfindung. Collin stellt mit Sparwasser und Paul Breitner auch zwei Fußballer ins Zentrum. Sparwasser, der mit einer Karriere im Westen liebäugelt und nach dem 1:0 nicht zum Feiern auf die Reeperbahn darf. „Maoist“ Breitner, der Rotwein aus der Johannisbeer-Mostflasche trinkt und 100.000 Mark Weltmeister-Prämie erstreikt, wirft sich mit Franz Beckenbauer und Helmut Schön Beschimpfungen an den Kopf.

Am Ende ist Honecker, der nur Angst vor einer hohen Niederlage hatte, ebenso glücklich wie die Westdeutschen, die durch die Niederlage gegen den „feindlichen“ Bruder nicht in die Gruppe mit der Niederlande, Argentinien und Brasilien rutschten. Auch ich durfte im heimischen Wohnzimmer weiter jubeln, bis zum Finale mit Deutschlands 2:1 über Cruyff & Co.

1990 brüllte ich wieder den Namen Sparwasser in die Nacht. Ich stand vor den Ilmenauer Glaswerken und verteilte die Erstausgabe der Zeitung „Die Neue“ an die Frühschicht. Zwei meiner Kollegen der gerade abgewickelten Thüringer Neuesten Nachrichten hatten das Blatt in Suhl gegründet und mich mit der Leitung der Sportredaktion beauftragt.

Der legendäre Torschütze war 1988 doch noch in den Westen geflüchtet. „Sparwasser will sein Haus zurück“ hieß damals meine Schlagzeile, die ich den Arbeitern wie ein Verkäufer zurief. Die neue Zeitung überlebte aber wie die meisten der 13.000 Arbeitsplätze des Glaswerks nur kurze Zeit.

Ob der berühmteste Fußballer der DDR später entschädigt wurde, weiß ich nicht mehr. Als Torschütze bleibt er meiner Generation jedenfalls unvergessen. „Wenn auf meinem Grabstein nur steht ‘Hamburg 1974’, weiß jeder, wer da liegt", sagte Jürgen Sparwasser, inzwischen 72, einmal launig. Auch das war ein Volltreffer.

„Das Spiel der Brüder Werner“, Philippe Collin und Sebastien Goethals, Splitter-Verlag, 147 Seiten, 25 Euro.