Dirk Pille über Schreihälse in Fußballstadien und „Hinterzimmer-Gerichte“.

Mein schwarz-gelber „Glückauf“-Schal liegt noch auf dem Boden. Er ist vierzig Jahre alt. Benutzt wird er nicht mehr. Erstens gibt es keine kalten Winter mehr, und dann bin ich inzwischen 56 Jahre alt, Journalist und damit schon lange kein Fan mehr.

Damals im Block von Glückauf Sondershausen wurde gejubelt über den Aufstieg in die DDR-Liga 1980 auf dem Sportplatz in Jecha. Der Nordhäuser Manfred Willing hatte die Kumpel als Trainer nach oben geführt. Unvergessen später das Spitzenspiel 1984 gegen Motor Nordhausen – vor 6300 (!) Zuschauern auf dem Göldner. Glückauf war damals Spitzenreiter, doch die Partie ging 1:2 verloren. Damals wurde viel gesungen, geschrien, wenig Druckreifes gesagt. Auch schlimme Sprüche, die damals schon als rassistische Beleidigungen galten, waren an der Tagesordnung. Es kann sein, dass ich manchmal mitgesungen habe.

Das Stadion galt zu DDR-Zeiten als Ort der „freien Meinungsäußerung“. In der Masse fühlte man sich sicher vor den Autoritäten. Der SED-Staat ließ das Ventil Fußball offen. Wenn Rot-Weiß Erfurt auf den BFC Dynamo traf und der Schiedsrichter wundersame Entscheidungen traf, da gellte „Stasi-Schweine“ durch das Oval.

Schockiert war ich am 17. Mai 1980. Mit 16 durfte ich allein mit den Kumpels zum Pokalfinale nach Berlin reisen. FC Carl Zeiss gegen FC Rot-Weiß. Ein packendes Thüringenderby, dass der Favorit aus Jena nach Verlängerung 2:1 gewann. Der Zug erreichte Erfurt erst in der Nacht, ich musste ein paar Stunden auf dem Hauptbahnhof warten, um nach Hause zu kommen. Plötzlich Unruhe vor der Mitropa-Gaststätte. Ich sah zum ersten und einzigen Mal eine Messerstecherei. Algerische Gastarbeiter waren mit Rot-Weiß-Fans aneinandergeraten. Die Volkspolizei trat auf, es gab Verhaftungen, auch mein Personalausweis wurde auf dem Bahnsteig kontrolliert.

40 Jahre später hat sich im Fußball nichts verändert. Das Stadion ist immer noch oft ein rechtsfreier Raum. Schiedsrichter werden übel beschimpft. Obwohl die Stasi nicht mehr existiert und Wett-„Schieber“ Hoyzer verurteilt wurde. Inzwischen gibt es farbige Spieler, die manchmal Menschenunwürdiges ertragen müssen. Aber auch normale Nachbarn teilen auf der Tribüne verbal so übel aus, dass sie zu Hause von Mutti eins mit dem Nudelholz drübergezogen bekämen. Im zivilen Leben würde es Geldstrafen wegen Beleidigung hageln.

Doch viele der Täter glauben immer noch, sie hätten ein Recht darauf, sich beim Fußball völlig gehen zu lassen. Bezahlen müssen sie nur selten, denn die Polizei ermittelt eher kläglich gegen den „Kleinkram“ auf dem Fußballplatz.

So müssen die Vereine blechen. Wie Wacker Nordhausen, wo wegen der Insolvenz gerade jeder Euro umgedreht werden muss. Nachdem beim 0:1 in Martinroda vor drei Wochen ein Teil einer E-Zigarette einen Linienrichter traf und der Referee zudem rassistische Beleidigungen im Spielbericht vermerkte, verhandelte das Sportgericht des Nordostdeutschen Fußballverbands. Eine vierstellige Geldstrafe hat es wohl in erster Instanz gegeben. Das Urteil und seine Begründung wurden aber vom Verband nicht öffentlich gemacht. So sind die Regeln. Es wäre Sache der betroffenen Vereine, etwas zu veröffentlichen, sagt der NOFV. So bleibt der Hauch von „Hinterzimmer-Gerichten“, auch wenn der Verband betont, „diskriminierende und rassistische Verfehlungen unnachgiebig zu verfolgen und zu ahnden“.

Die Nordhäuser werden zahlen. Seit dem Platzsturm im Pokal in Altengottern waren die Wacker-Anhänger immer wieder negativ aufgefallen. Wacker spielt schon länger auf Bewährung. Sammelaktionen der Fans und des Vereins für Bälle und Trikots für den Nachwuchs wirken vor dem Hintergrund fast sinnfrei. Der Täter, der diesmal offenbar nicht aus der Ultra-Gruppe stammt, kann vom Verein finanziell nicht belangt werden. Es gibt keinen Namen. Die Fanszene hüllt sich wie immer in Schweigen. Verpfiffen wird keiner.

Ich habe früher übrigens auch Jena im Europapokal und Nordhausen in der Aufstiegsrunde zur DDR-Oberliga angefeuert. Ohne Fanschal, weil ich Fußball mag.