Thomas Beilner erklärt, warum Prognosen so schwierig sind.

Der Ausspruch wird Georg von Siemens (1839 – 1901) zugeschrieben, einer der Gründungsdirektoren und Vorstandssprecher der Deutschen Bank. Zum einen bezieht er sich auf das Glücksspiel Roulette in Monte Carlo, das durch den zufälligen Lauf einer Kugel im Kessel bestimmt wird. Versuche, Systeme zu entwickeln, um vor dem eigentlichen Wurf den Lauf der Kugel vorhersagen zu können, sind bis lang ohne Erfolg. Zum anderen zielt er auf die Prognosen des Börsengeschehens ab.

Warum sind Prognosen für die künftige Wertentwicklung am Aktienmarkt und die exakte Bestimmung des richtigen Kauf- und Verkaufszeitpunktes so schwierig?

Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, müssen wir die Ökonomie als Sozialwissenschaft begreifen und den Zweig der angewandten Mathematik verlassen. Im Zentrum steht dann ein Menschenbild, in dem der Mensch nicht vollkommen informiert ist und nicht die beste Alternative oder Lösung ohne Mühe und Aufwand innerhalb kurzer Zeit ermittelt. Testen Sie es selbst. Ein Beispiel: Zusammen mit zwei Freunden trinken Sie Wein. Der Kellner bringt die Rechnung über 30 Euro. Jeder von Ihnen gibt ihm 10 Euro. An der Kasse stellt der Kellner allerdings fest, dass die Rechnung nur 25 Euro beträgt. 5 Euro durch 3 Personen zu teilen, ist schwierig für ihn zu rechnen. Also: 2 Euro steckt er ein und gibt jedem von Ihnen 1 Euro zurück. Damit hat jeder von Ihnen 9 Euro gezahlt, in der Summe 27 Euro plus 2 Euro Trinkgeld. Das ergibt 29 Euro für die Gruppe.

Wo ist der 1 Euro geblieben?

Schreiben Sie mir, ich schicke Ihnen die Lösung, denn Sie werden feststellen, dass Ihr Gehirn an der Lösung arbeiten muss. Genauso ist es in der Ökonomie bei der Abgabe von Prognosen. Viele Faktoren müssen gleichzeitig berücksichtigt werden. Gerade aktuell belasten steigende Zinsen, Konjunktureintrübungen in Europa und China, Unsicherheiten im Zuge des Ukraine-Krieges die Stimmung der Investoren. Diese Hintergrundmusik muss erfasst und bewertet werden. Jeder von uns macht dies in einer anderen Weise und genau das wissen wir.

Der fundamentale Tatbestand in Prognosen unterscheidet die Ökonomie von den Naturwissenschaften. In der Ökonomie ist der Gegenstand der Prognose (für eine Währung, ein Unternehmen, eine Volkswirtschaft usw.) abhängig vom Inhalt der Prognose (positive, neutrale oder negative Entwicklung). Kein Naturgesetz, sondern der Mensch bewertet und entscheidet. Er handelt nicht zufällig, sondern sucht und findet Lösungen, lernt, entdecket, bildet Erwartungen, handelt mit einem Bezug in die Zukunft, wägt bei Handlungsmöglichkeiten die Vor- und Nachteile ab und richtet diesen individuellen Prozess wiederum an den Entscheidungen anderer aus. Prognosen werden, hinsichtlich derer die Entscheidungen getroffen werden, von diesen Sichtweisen beeinflusst.

Die Prognosen über den Inhalt und den Gegenstand repräsentieren die diskontierten Erwartungen der Menschen auf den heutigen Zeitpunkt und sind damit selbst Prognosen. Das macht es so spannend, sich intensiv mit fundamentalen volkswirtschaftlichen Gegebenheiten, Markttrends, Branchen- und Einzeltitelanalysen, der Zentralbankpolitik, den Kursbestimmungsfaktoren und der Finanzmarkttheorie zu beschäftigen. Durch die Aufbereitung der Daten und das Einpflegen in Modelle mit Szenarien und Eintrittswahrscheinlichkeiten gelingt es, Bandbreiten von Prognosen abzuleiten und zu formulieren. Über die Börse sagt Altmeister André Kostolany: „Für mich ist sie Monte Carlo mit viel Musik. Man muss nur die Antennen haben, um diese Musik aufzufangen und dann die Melodie zu erkennen.“

Thomas Beilner ist Honorarprofessor für Finanzmarkttheorie an der Universität Erfurt. Sie erreichen den Autor unter thomas.beilner@uni-erfurt.de