Abgelegene Täler, Bergdörfer mit Steintürmen, an den Schreinen werden alte Götter verehrt: Nirgendwo ist Georgien urtümlicher als in Tuschetien. Über die Schafsherden wachen zähnefletschende Hunde.

Omalo (dpa/tmn) – Für den Ablauf ihrer Georgien-Rundreisen hat Tinatin Ididze eine klare Faustregel: Tuschetien zuletzt. Der Grund: "Nach Tuschetien kann dich nichts mehr beeindrucken."

Zugegeben, Tiko - so nennen sie alle - ist nicht objektiv. Die Reiseführerin ist stolze Tuschin. Seit mindestens neun Generationen lebt ihre große Familie in den abgelegenen Tälern Tuschetiens, an Georgiens Grenze zu Russland im Großen Kaukasus. Doch Tiko ist herumgekommen. Die 37-Jährige lebte drei Jahre in Andalusien und studierte in Tiflis Lehramt. Sie spricht fließend Englisch und Spanisch. Vor kurzem hat sie ihre eigene Reiseagentur gegründet.

Und wie Recht sie mit ihrer Faustregel hat, spüren ihre Gäste schon bei der Anreise. Die einzige Straße nach Tuschetien führt über den fast 3000 Meter hohen Abano-Pass. In scharfen Kurven schaukelt der Geländewagen empor. Manchmal stoppt eine Planierraupe die Fahrt, mal eine Herde Schafe. Trotzdem hofft Tiko, dass die Straße nie geteert wird. "Sonst kommt der Massentourismus hierher."

Der Boom beginnt in Omalo

Als das Gekurve nach fünf Stunden in Omalo endet, sieht man sofort, was Tiko meint. Im Hauptort Tuschetiens könnte man ohne größeres Retuschieren ein Mittelalter-Epos drehen. Die Häuser sind aus geschichteten Steinen gebaut und zum Teil mit Schieferplatten gedeckt. Auf einem Hügel stehen ein halbes Dutzend Wehrtürme.

Kein Wunder, dass der Tourismus hier in den Jahren vor der Pandemie boomte. Fast alle Häuser in Omalo sind jetzt "Guesthouses". Zwischen den renovierten Herbergen verfallen die Ruinen verlassener Häuser.

Der Ethnograph und die Segnungen des Tourismus

Wer mehr über die Kultur der ortsansässigen Menschen erfahren will, geht ins wuchtige Nationalparkzentrum. Spannender ist ein Besuch bei Nugzar Idoidze, der in den 1980er Jahren die Tuschetien-Abteilung im ethnographischen Museum von Tiflis leitete. Seit 20 Jahren lebt er wieder hier in der Region und sammelt die Geschichten der Alten.

"Tuschetien ist die einzige Region Georgiens, die ihre alte Hirtenkultur erhalten hat", sagt Idoidze. Der Tourismus gefährde die Traditionen bisher nicht. Er ermutigte die Tuschen dazu, sich halb vergessenem Handwerk zu widmen. Die Frauen stricken nun wieder Socken und Hausschuhe, knüpfen bunt gemusterte Teppiche und filzen Hüte. Die Reittouren halfen dabei, die heimische Pferderasse erhalten.

Auf Hirtenpfaden von Dorf zu Dorf

Auf einer Erdstraße spaziert Tiko am folgenden Morgen talwärts, auf einer Weide streichelt sie ihr Lieblingspferd. Rostige Schneeraupen aus der Sowjetzeit stehen am Wegesrand. In den Gärten leuchten Blumen unter knorrigen Apfelbäumen. In der Ferne: angezuckerte Felsgipfel.

Die meisten Berge hier lägen an der Grenze zu Russland, erklärt Tiko. Ihre Gipfel seien deshalb tabu. Wanderer gehen vor allem in den Tälern und auf halber Höhe. So kommt man durch viele traditionelle Dörfer. In Shenako hängen getrocknete Büschel von Oregano, Kamille und Johanniskraut an den Steinmauern. Und daneben gestrickte Socken und Hausschuhe. Freiluft-Souvenirverkauf.

Auf einem Hügelchen steht eine der sechs Kirchen Tuschetiens. In Sowjetzeiten kratzten Leute ihre Namen in die Wände. 2013 malte ein lokaler Künstler das Innere wieder mit Fresken georgischer Heiliger aus, darunter Nino - die Nationalheilige brachte der Legende nach im vierten Jahrhundert den christlichen Glauben nach Georgien.

Zähnefletschende Furien

Das Dorf Chigho wirkt wie ausgestorben. Nur eine Familie harrt hier inmitten der Ruinen aus – und hat ihr Haus nun sogar zur Pension für Wanderer ausgebaut. Mit herrlichem Fernblick schlendert man dahin, versunken ins Spiel von Licht und Schatten auf den Bergflanken. Bis Tiko erstarrt. "Da vorne sind Schafe, also wahrscheinlich auch Hunde." Schon schießen drei Furien auf sie zu, fletschen die Zähne.

Tiko streckt ihre Stöcke aus und ruft den Schäfer, die Wanderer gehen hinter ihr in Deckung. Lange Minuten verrinnen, bis der Hirte in aller Seelenruhe herbei schlurft. Seine Bestien beruhigen sich. Ihr Herr bittet die Überraschungsgäste in seine Hütte und entschuldigt sich, dass er nichts anbieten kann. Im Oktober wird er seine Herde zusammen mit vielen anderen über den Abano-Pass treiben. Dabei trotten nun jedes Jahr Touristen mit, zumindest die ersten Tage.

Im Schmuckkästchen Tuschetiens

Ob auf dem Viehabtrieb oder einer Rundtour durch die Gegend, nach Dartlo kommen alle Gäste. Das schönste Dorf Tuschetiens ragt über einer kleinen Schlucht auf. Die schlanken Türme tragen ein Pyramidendach, die Steinhäuser sind hübsch renoviert. Seit 1986 ist Dartlo Museumsdorf, mithilfe der Weltbank wurden alle Wellblechdächer wieder durch traditionelle Schieferdächer ersetzt.

Die vorchristlichen Traditionen sind bis heute stark, das spürt man vor allem an den Schreinen in jedem Dorf. In Dano liegen Widderschädel und Hörner auf dem Türmchen aus Steinplatten. Als eine Wanderin ihren Fuß über den Halbkreis aus losen Steinen davor setzt, ruft Tiko: "Stop!" und deutet auf das Piktogramm, einen roten, durchgestrichenen Rock. Für Frauen sind die Schreine tabu. An anderen Orten dürfen Männer nicht mal vorbeigehen. Touristen, die diese heiligen Regeln missachten, verärgern die Tuschen sehr. Wer dagegen respektvoll ist, wird selbst zu hohen Festen eingeladen.

Info-Kasten: Tuschetien

Anreise: Von Tiflis fahren Minibusse bis nach Alvani. Von dort geht es im Sammeltaxi weiter nach Omalo.

Reisezeit: Ende Juni bis Mitte Juli blühen die Wiesen, im August ist das Wetter in der Regel am stabilsten. Wer die traditionellen Feste erleben will, reist am besten Ende Juli an.

Einreise und Corona-Lage: Georgien ist als Corona-Risikogebiet eingestuft. Die Einreise ist mit einem negativen PCR-Test (nicht älter als 72 Stunden) möglich. Zusätzlich ist laut den Reisehinweisen des Auswärtigen Amtes auf eigene Kosten ein weiterer PCR-Test am dritten Tag nach der Einreise durchzuführen.

Informationen: www.gnta.ge

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