Ilmenau. Karlheinz Brandenburg, Professor an der Technischen Universität Ilmenau, will das das zielgerichtete Hinhören und Weghören für jedermann möglich machen.

Wenn wieder einmal alle durcheinander reden, würde mancher Mensch gerne die Ohren zuklappen – und nur noch gezielt das hören, was wichtig ist. Bisher ist das nicht möglich. Doch schon in wenigen Jahren könnten dank Thüringer Forscherfleiß Hilfsmittel auf den Markt kommen, die neben dem Weghören und dem Überhören vor allem auch das gezielte Hinhören möglich machen. Karlheinz Brandenburg, Professor an der Technischen Universität Ilmenau und bekannt durch den mp3-Player, spricht von „Personalized Auditory Reality“, abgekürzt „PARty“.

Der Forscher hat jetzt ein Labor gegründet, das sich mit dem Menschheitstraum des gezielten und personalisierten Hörens befasst. Er rechnet damit, dass in fünf, sechs Jahren ein Kopfhörer für Profianwendungen auf den Markt kommen kann, der dies ermöglicht. „Wenn es richtig gut geht und die richtigen Ressourcen verfügbar werden, kann es auch noch schneller gehen“, erläutert der weltweit renommierte Forscher im Gespräch mit dieser Zeitung. Unter besten Voraussetzungen wäre das selbst gesetzte Ziel demnach bereits „in zwei bis drei Jahren“ erreichbar. Allerdings wird für die Massenanwendung, die preisabhängig ist, wohl noch ein längerer Zeitraum vergehen. „Wann eine solche Technik für uns alle günstig erwerbbar ist, kann ich noch nicht sagen.“

Karlheinz Brandenburg, Wissenschaftler und Entrepreneur
Karlheinz Brandenburg, Wissenschaftler und Entrepreneur © Fraunhofer IDMT | Fraunhofer IDMT

Das, was Brandenburg vorhat, baut auf bisherige Forschungen auf, wird aber dennoch etwas ganz Neues sein. In dieser Hinsicht kann von einer Sprunginnovation gesprochen werden, denn seine Entwicklung „geht ein ganzes Stück darüber hinaus, was es bisher gibt. Diese augmentierte Realität, die ich da mit mir führe, ohne im normalen Leben gestört zu werden, hat eine neue Qualität“, sagt er.

Sprunginnovationen werden künftig vom Bundesbildungs- und -forschungsministerium durch ein in Leipzig ansässiges Institut besonders gefördert. Brandenburg sieht die Schwierigkeit, dass bei vielen Neuerungen zunächst kaum der Nutzwerk zu erkennen sei. Bei „PARty“ verhalte sich das anders.

Weltweit gefragt als Wissenschaftler und kluger Kopf

Wer den Namen Karlheinz Brandenburg hört, der denkt an den mp3-Player. Brandenburg ist weltweit gefragt als Wissenschaftler und kluger Kopf für Nutzwertiges. In den vergangenen Jahren war seine wissenschaftliche Basisstation Ilmenau. Jetzt steht der Mann, der 1954 in Erlangen geboren wurde, altershalber vor einer Zäsur: Mitte 2019 hat Brandenburg seine Aufgabe als Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT, an dessen Gründung er maßgeblich beteiligt war, abgegeben. An der Technischen Uni ist der Professor Lehrstuhlinhaber für Elektronische Medientechnik noch bis Ende März 2020 offiziell Fachgebietsleiter. „Und dann gehen Sie in Ruhestand? Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, beginne ich unser Gespräch im Fraunhofer-Gebäude. Brandenburg lacht. Er habe nicht vor, sich als Pensionist auf die Zuschauerbank zurückzuziehen. Er will weiter forschen.

Könnte gut sein, dass eine von diesen jetzt so oft angesprochenen Sprunginnovationen demnächst von ihm kommt. Und in diesem Zusammenhang lohnt es sich, ganz genau hinzuhören.

Wenn einer mit Mitte 60 noch nicht daran denkt, der akademischen Welt den Rücken zu kehren, kann er „Senior Professor“ werden. Wobei: Thüringen muss da noch ein paar Weichen stellen, damit diese Verpflichtung einen rechtlichen Rahmen hat. Brandenburg wird also einen Vertrag mit seiner Uni schließen, „damit ich weiter Forschung betreiben kann“. Einerseits denkt Brandenburg dabei an Projekte, die bereits begonnen und noch eine längere Laufzeit haben.

Zum anderen gibt es welche, die gerade erst beantragt worden sind oder beantragt werden. Zudem hat er „noch viele Doktorandinnen und Doktoranden“ zu betreuen. Auf anderthalb Dutzend kommt er da leicht – und ein Teil wird erst in fünf oder mehr Jahren den Titel erreicht haben. Dann ist Brandenburg über 70. Aber die Aussicht schreckt ihn nicht: „Ich mache das, so lange es mir Spaß macht“, betont er.

Vor wenigen Wochen wurden die „Brandenburg Labs“ gegründet. „Ich bin jetzt mal wieder Entrepreneur“, sagt Brandenburg. Unternehmer und Firmengründer also. Einer, der etwas Neues vorhat. „Es gibt schon seit ewigen Zeiten den Traum, das Hören so zu unterstützen, dass die Umgebungsgeräusche zurückgedrängt werden“, erläutert Brandenburg. „Fast jedes Jahr“ – und zwar seit Jahrzehnten – sei jemand gekommen, der meinte, das Problem gelöst zu haben. „Aber es hat nie gestimmt.“ Brandenburg aber ist auf einem guten Weg: Seine Mitarbeiter sprechen in diesem Zusammenhang von „PARty“. Hinter dem Akronym steht der Begriff „Personalized Auditory Reality“. Dabei geht es um psychoakustische Effekte. Brandenburg erklärt das so: „Es ist wie mit einer Brille: Die setzen Sie auf und sehen besser. In unserem Fall setzen Sie die Kopfhörer auf – und hören besser.“

Was heißt besser?

Es geht darum, gezielter zu hören und sich zugleich weniger stören lassen zu müssen vom Umgebungslärm. Wenn es rundherum zu laut ist, etwa bei einer Zugfahrt, „wird die Umgebung leiser. Das ist das altbekannte Noise Cancelling. Ich kann auch einstellen, dass die Durchsage noch durchkommen soll. Wenn ich mich unterhalte, soll trotz aller Umgebungsgeräusche hörbar sein, was sie durchsagen. Oder wenn ich irgendwo bin, wo mir insgesamt der Geräuschpegel der Sprechenden zu laut ist, ich aber die Hintergrundmusik hören möchte, kann ich genau das einstellen. Und zwar ...“ – und nun kommt der eigentliche Clou – „so, dass es gar nicht so klingt, als hätte ich Kopfhörer auf“, macht Brandenburg deutlich. „Entfernungshören, Richtungshören – das wirkt alles ganz normal“, umreißt Brandenburg das Ziel: „Wir wollen allgemein das Hören verbessern.“ Gedacht sei dies alles nicht nur für Menschen mit – oft altersbedingt – vermindertem Hörvermögen. „Es soll etwas sein für alle Menschen und es soll sich anhören wie in der Wirklichkeit“, sagt er – und nennt sein Vorhaben „die große Idee“.

Brandenburg baut auf bisherige Forschungen auf, aber das, was ihm vorschwebt, wird dennoch etwas ganz Neues sein, Ist es also eine Sprunginnovation? „Ja. Denn es geht ein ganzes Stück darüber hinaus, was es bisher gibt. Diese ,Augmentierte Realität’, die ich da mit mir führe, ohne im normalen Leben gestört zu werden, hat eine neue Qualität“, sagt er.

Mit Interesse hat Brandenburg zur Kenntnis genommen, dass das Bundesbildungs- und -forschungsministerium jetzt Sprunginnovationen in besonderer Weise auf dem Weg zur Marktfähigkeit unterstützen will. Das Ansinnen sei verständlich, der Weg aber gewiss nicht einfach, denn: „Bei alledem, was nachher als großer Durchbruch oder Paradigmenwechsel angesehen wird, gibt es eine eng verknüpfte Eigenschaft – und zwar: Die Leute kapieren das zu dem Zeitpunkt nicht.“ Insofern sei er „skeptisch, wie man das befördern kann?“ Wenn Brandenburg das feststellt, dann ist das ein Vorbehalt, der sich mit der Geschichte von mp3 begründen lässt. Da sei es ihnen auch nicht anders gegangen: Die Firma Grundig, damals noch ein Schwergewicht, habe vor allen anderen Firmen vorgeführt bekommen, was damals in der Entwicklung war. Und Grundig hat nicht erkannt, was sich daraus hätte machen lassen. Die Reaktion sei vielmehr gewesen: Das braucht eigentlich niemand...

Mit Fleiß und Lichtorgel

Wenn etwas so beschrieben werden kann, dass sofort alle Leute sagen: „Das brauchen wir, dann ist schon die Frage, ob es überhaupt eine Sprunginnovation ist“, betont der Wissenschaftler. Und genau deshalb seien sie in Ilmenau mit „PARty“ schon „ziemlich nah dran am Mainstream“, macht er deutlich. Firmen hätten diese Idee bereits im Blick. Die „Brandenburg Labs“ aber wollen die Ersten sein, die das, was so bestechend klingt, können.

Der Lebensweg von Karlheinz Brandenburg zeigt exemplarisch, wie jemand Forscher werden kann: Er war nicht nur ein guter Schüler am Humanistischen Gymnasium mit Latein und Griechisch sowie naturwissenschaftlichen Hauptfächern in der Oberstufe; er hat sich auch früh für mehr als nur seine Noten interessiert – und machte dennoch sein Abitur mit 1,0. Als Junge las Brandenburg Bücher über große Erfinder. „Das fand ich toll. Aber ich hätte nie gedacht, dass man mich eines Tages dazuzählen würde. Zudem war ich Elektronikbastler; habe meine Verstärker selbst zusammengebaut und an Klassenkameraden Lichtorgeln verkauft...“

Elektrotechnik und Mathematik lagen als Studienfächer nahe, auch aus dem Bereich Informatik nahm Brandenburg vieles mit. Er habe dieses Studium „mit einer Energie, die ich heute nicht mehr verstehe, durchgezogen“, sagt er mit einem Schmunzeln. Mit zwei Diplomen schloss er ab. Man darf sich den jungen Brandenburg aber nicht als Nerd oder Streber vorstellen: „Ich habe aktiv Jugendarbeit gemacht, war Gruppenleiter bei den Christlichen Pfadfindern – und während des Studiums Vorsitzender des Landeskonvents der evangelischen Jugend in Bayern. Da ging es im Prinzip um Jugendpolitik, Koordination von Themen...“ Wichtig sei das gewesen, „um keinen Tunnelblick zu entwickeln und um bestimmte soziale Fähigkeiten zu entwickeln“, stellt Brandenburg im Rückblick fest. „In so einem Jugendverband hat man jede Menge Freiwillige, die man koordinieren soll – und das sind eben Freiwillige, denen man also nicht mit ,Ihr müsst’ kommen kann. Wenn man nicht den richtigen Ton trifft, sagen die ‘Tschüss’ und sind weg.“ Für seinen akademischen Weg sei es hilfreich gewesen, schon in jungen Jahren zu lernen, was es bedeutet, Menschen zu begeistern, zu motivieren und anzuleiten. „Das hat mein ganzes Berufsleben geprägt“, sagt Brandenburg. Er empfiehlt daher auch dem heutigen akademischen Nachwuchs ein Engagement abseits von Schule und Studium.

Wenn es mehr Ressourcen gäbe ...

Wenn Brandenburg sich auf dem Feld der Forschung etwas wünschen dürfte, dann dies: „Fortschritte bei der Speicherung elektrischer Energie würde uns massiv helfen in den nächsten Jahrzehnten.“ Die Wissenschaftslandschaft kennt er genau und er weiß auch, wie es in anderen Ländern aussieht: „Im weltweiten Maßstab geht es uns nicht schlecht. Das System funktioniert nach wie vor, auch wenn man bei der täglichen Arbeit über Jahrzehnte an der Uni nie das Gefühl los wird, dass die Mittel immer weniger werden. Real stimmt das nicht, aber es könnte einfach noch viel mehr gehen, wenn es mehr Ressourcen gäbe“, sagt Brandenburg. Zur Hochschul-Situation in Thüringen sagt er: „Ich sehe einerseits,was alles getan wird. Aber ich weiß andererseits: Wir sind kein wirklich reiches Land... In Ilmenau kämpfen wir seit Jahren dagegen, dass die Zahl der Professoren weiter verringert wird, statt dass wir aufbauen.“ Umso mehr würdigt er das „Engagement der jungen Kollegen, die oft Arbeitsbedingungen auffangen, die nicht so toll sind“.

Zurück zu „PARty“: Wenn alles gut läuft, wird in weniger als einem halben Jahrzehnt die Profianwendung des gezielten Hin- und Weghörens möglich sein. Zu welchem Preis – und wann für jeden? Das sind Fragen, die sich, macht Brandenburg deutlich, erst später und unter Einbeziehung der Industrie beantworten lassen.