Eisenach. Lesung aus dem Tagebuch von Margot Friedrich über die Wende-Zeit im Landestheater Eisenach.

Angst vor berstenden Kirchen, Wut auf ignorante SED-Genossen, Jubel über die offene Mauer, Staunen über freundliche Polizisten, Dankbarkeit für geschenkte Kiwis, Ehrfurcht vor mutigen Frauen – Erinnerungen an die Zeit vor 30 Jahren, die bei der Szenischen Lesung aus dem „Eisenacher Tagebuch einer Revolution“ von Margot Friedrich im Landestheater Eisenach geteilt werden. Annekatrin Schuch-Greiff und Alexander Beisel lesen aus den Aufzeichnungen, die nur dem privaten Erinnern dienen sollten, „um nicht durchzudrehen“, wie Juliane Stückrad als Moderatorin erklärt. Wie gut, dass die Autorin ihr Buch öffentlich gemacht hat – ihr Erleben ist ein aufschlussreiches Kaleidoskop des kollektiven Geschehens, bei dem so viel in so kurzer Zeit passiert ist.

Zum Beispiel Sohn Tills Abreise zur Prager Botschaft; Kaffee, Äpfel und ein goldenes Kreuz als Talisman packt ihm die Mutter ein; Tränen, als die Flüchtlinge ausreisen dürfen. Am 10. Oktober das erste Treffen in Eisenach, Erschüttern über das brutale Vorgehen der Polizei bei Demonstrationen, „die Menschen sind hungrig nach Informationen und Veränderungen“, das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. „Ist das eine Revolution?“, fragt sich Margot Friedrich, und antwortet: „Das bringen wir nicht fertig“. Kurze Zeit später: „Das könnte eine Revolution werden“, wobei ihr Reform lieber ist, weil „kleiner und machbarer“. Das erste Mal im „Zentrum der Macht“ des Kreises, die Arroganz der SED-Leute schockiert, „das Volk wollen die nicht“.

Tage voller Hektik und Arbeit, Schlafen unmöglich, „wir versuchen ein Land umzukrempeln und Ideologien infrage zu stellen, die 40 Jahre galten“. Am 23. Oktober das erste Friedensgebet mit 5000 Teilnehmern, Aufrufe zur Gewaltfreiheit, der Bischof spricht vom Brunnenrand auf dem Markt, „unvergesslich“. Mut und Hochstimmung, kein Ducken und Verstecken mehr – „langsam glaube ich, dass es was werden könnte“, notiert Margot Friedrich. Eine „Revolution nach Feierabend“, konstatiert sie, weil weiter alle brav zur Arbeit gehen, „wir bleiben ordentliche Leute“. Dann immer mehr Chaos, „was habe ich nur angestoßen“, alles geht zu schnell, „eine Art Eruption“. Die erste Demo, bedrohliche Anrufe und beglückende Nachrichten, eine Zeit der Wunder und der großen Angst, das erste Bürgergespräch, „wir müssen Demokratie lernen“.

Der 9. November, Hysterie und Freiheitsrufe, „Großer Gott wir loben Dich“, schreibt Margot Friedrich ins Tagebuch, aber auch: „Reisefreiheit und Bananen sind doch nicht alles“. Dazu: „Wie wird das alles enden, das geht so schnell, zu wenig Zeit zum Nachdenken“. So viel Müdigkeit, der Trabant neben dem Mercedes, „es geht vorwärts“. Dann: Aus „Wir sind das Volk“ wird „Wir sind ein Volk“, die Stimmung kippt. Die Stasi verbrennt Akten, Wut und Tränen, die Zentrale wird rund um die Uhr bewacht, „die Mutigen waren die Frauen“, erinnert sich Margot Friedrich. Der erste runde Tisch, „die Welt steht Kopf“, eine eigene Zeitung entsteht, Hoffnung, Sehnsüchte und Träume, so viel Tränen und Lachen, „die Zeit rast und wir alle mit“, mehr Luft und mehr Raum, „wir leben Alltag und machen Weltgeschichte“.

Aber auch: „Die Reformer werden ausgespielt“, fremde Männer benehmen sich, „als gehörte ihnen schon alles“, die Ahnung: „bald wird uns die Wende aus der Hand genommen“. Die „Schweinereien an der Spitze kommen ans Licht“, das Wort „Wendehals“ wird geprägt, aber Margot Friedrich sieht auch Feigheit und Schweigen, „wir sind es doch alle gewesen“. Die Besucher sollen ihre Erinnerungen ebenfalls teilen. Ein Demo-Plakat „Honi in den Tagebau“, Euphorie beim Demonstrieren, Angst davor, dass die Kirchen wegen der trampelnden Menschenmassen zusammenbrechen, ein „innerliches Aufrichten“, Busfahrer, die die Stasi-Zentrale versperren. Heidrun Sachse bekam eine frische Ananas geschenkt, Johannes Schlecht sah in Berlin Grenzer Fußball spielen, Ulrich Kneise erlebte Genossen, die es ehrlich gemeint hatten und nun am Ende sind.

Ein Westdeutscher erinnert sich an einen Herztod am Grenzübergang, verstopfte Straßen, kostenlose Würstchen und Kiwis, spielende Musikkapellen, Begegnung „von Mensch zu Mensch“, und bis heute gilt für ihn: „Wir sind nicht Wessis und Ossis sondern Nachbarn“. „Wir haben gedacht, es ist schon alles erzählt, aber es gibt immer noch neue Geschichten“, so das Fazit von Juliane Stückrad, verbunden mit der Hoffnung, dass das Erinnern weitergeht. Der Abschlusssatz von Margot Friedrich: „Was wir fertig gebracht haben, war großartig – die erste friedliche Revolution der deutschen Geschichte“. Viel Applaus.