Gerlinde Sommer zu einer Geschichte des Wagemuts

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

als mein Vater 20 Jahre jünger war, als ich jetzt bin, da hatte er mit ein paar Freunden einen wagemutigen Plan. Manche sagten: Ihr seid doch verrückt! Sie wollten auf das Matterhorn steigen. Sozusagen vom sportlichen Sonntagsspaziergänger zum Bergfex. Ich weiß noch, dass mein Vater, der sowieso sehr fit war, extra trainierte. Sie haben den Gipfelsturm auch geschafft, allerdings wären beinahe nicht alle wieder heil ins Tal gekommen, weil sich beim Abstieg das Wetter rapide zum Schlechten veränderte – und nur eine Seilschaft einen Bergführer hatte, während die anderen Kletterer im mittelalten Leichtsinn gemeint hatten, sich diese Ausgabe sparen zu können. Mein Vater, der immer ein zupackender, furchtloser Mensch war, hatte sich – nach einigen Erkundigungen – den Bergführer geleistet.

Als die anderen in Not gerieten, waren er und ein weiterer Mann aus der Gruppe sicher, nach genauer Rücksprache mit dem Experten den Abstieg allein wagen zu können – und unten notfalls Hilfe zu holen, sollten die anderen nicht zur verabredeten Zeit ankommen. Wagemut und Fürsorge. Sie schafften es ohne Rettungseinsatz; keinem ist etwas bleibend Schlimmes passiert.

Warum ich dies gerade jetzt erzähle? Einer aus der Gruppe ist jüngst verstorben. Mittlerweile war er hochbetagt – und auf Berge klettern konnte er längst nicht mehr. Aber dieses besondere Erlebnis hatte alle, die damals dabei gewesen waren, sehr verbunden. Mein Vater war der Erste aus der Gruppe, der zu Grabe getragen wurde. Das liegt jetzt 30 Jahre zurück – und er war damals jünger, als ich jetzt bin.

Wir, die Kinder und Kindeskinder, dieser Matterhornbezwinger werden uns nun bei der Beisetzung eines Seilschaftsmitglieds treffen. Und uns an Wagemut, Leichtsinn und Fürsorge der Gruppe erinnern.