Frank Quilitzsch über posthume Ungereimtheiten von Christa Wolf.

Der Nachlass von Christa Wolf umfasst 15.000 Briefe und ungezählte Tagebuchseiten. Als die Schriftstellerin vor acht Jahren starb, hoffte ich, es könnten sich auch noch unveröffentlichte literarische Texte von ihr finden. Bis heute ist, abgesehen von der Kurzgeschichte „August“ und dem autobiografischen Stück „Nachruf auf Lebende. Die Flucht“, einer Vorstudie zum Roman „Kindheitsmuster“, nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Zumindest nichts Größeres.

Das Kleine übersieht man leicht, und tatsächlich wurde ein im vergangenen Jahr erschienenes schmales Bändchen von der Kritik so gut wie nicht wahrgenommen. Auch ich habe das Kleinod erst jetzt entdeckt.

Schon der Titel macht neugierig: „Was nicht in den Tagebüchern steht“. Ich schlage das Büchlein (Radius-Verlag, Stuttgart, 67 Seiten, 18 Euro) auf und bleibe gleich auf der ersten Seite hängen. „Wann ist die Stimme brüchig geworden“, heißt es da. „Seit wann trifft sie in den alten Liedern die hohen Töne nicht mehr. Wann sind die Leidenschaften abgeflaut.“

Es ist ein älteres, bilanzierendes Ich, das zu sich und zu mir spricht. Es scheint in sich hinein zu lauschen und fördert schubweise Antwort zutage: „Mach keine Geschichten – damit fing es an. / Ich machte keine Geschichten. / Ich verlernte es, Geschichten zu machen.“

Diese leise Melancholie, dieses späte Bedauern, gepaart mit subtilem Humor, setzt sich auf den nächsten Seiten fort. Humor ist nicht gerade das, was ich mit Christa Wolf verbinde. Eher Pathos, Schmerz und rückhaltlose Selbstbefragung. Doch hier paaren sich Humor und Selbstironie auf sympathische Weise.

Ich sehe die Frau vor mir, wie sie am Computer sitzend aus einer noch unfertigen Erzählung auftaucht und aus dem Fenster schaut. „Heute wusch ich meine Sommerkleidung“, heißt es lapidar. „Vom Schreibtisch aus / sah ich das

blaue / im Sturm auf der Leine / mühelos alle Bewegungen vorführen / die ich / in ihm machen wollte /als ich es kaufte.“

Christa Wolf und ihre flatternden Träume auf der Leine! Was für ein Bild. Ich hätte es eher bei der Schulzenhofer Dichterin Eva Strittmatter verortet.

Christa Wolf habe sich nie als Lyrikerin gesehen, betont Gerhard Wolf, ihr Mann und der Herausgeber des Versbüchleins, in seinem Nachwort. Aber: „Sie liebte Gedichte seit ihrer Kindheit. Ein kleines Bändchen mit Goethe-Lyrik, sie hat es beschrieben, ließ sie sich zu langen Krankenhausaufenthalten mitbringen, weil es ihr Kraft zu spenden schien.“ Und wenn sie selber Einfälle, Erlebnisse und Erfahrungen ins Bild, ins Gleichnis bringen wollte, schrieb sie diese in Versform auf.

Als Christa Wolf 1993 in Santa Monica ihre lange zurückliegende IM-Tätigkeit bekannte, löste dies in Deutschland eine heftige, teils bösartige Medienkampagne aus. Günter Grass, Peter Härtling, Friedrich Schorlemmer und andere sprangen der Autorin bei. Und auf einen Brief von Annelie und Volker Braun soll die Wolf mit Versen geantwortet haben. Vielleicht mit diesem: „Leb ich in Träumen deutlicher / und freudiger / und ehrlicher?“