Gerlinde Sommer über bedenkliche Formulierungen.

Im Vorspann zu einem Interview las ich jetzt folgenden Satz: „In dem Stuhl, auf dem schon Helmut Kohl und Joseph Ratzinger saßen, dürfen wir mit Hans Maier in seinem Münchner Haus sitzen und Bilanz ziehen.“

Mir eröffnet sich vor dem geistigen Auge gleich eine Szenerie, wenn ich so bildhaft Beschriebenes lese. Ich sehe also Helmut Kohl und Joseph Ratzinger auf einem Stuhl sitzen. Gemeinsam? Dann hat der Kirchenmann hoffentlich auf dem Schoß Platz gefunden. Ansonsten …

Und jetzt nehmen also auf dieser Sitzgelegenheit der Interviewer, der 90-jährige Maier und mindestens noch eine dritte Person Platz. Denn das meint das „wir“ doch: mehr als nur ich, mehr als nur einer. Fragen über Fragen: Handelt es sich überhaupt um einen Stuhl, der all dieser Personen zu tragen vermag? Ist es nicht eher ein Sofa, eine Bank? Oder ist einfach dieses „wir“ fehl am Platz?

Mancher Einzelne versteckt sich aus Bescheidenheit hinter dem „wir“, möchte also seine Person nicht in den Vordergrund rücken. Andere sagen „wir“, um uns zu bedeuten, er spreche für viele, wenn nicht gar für die Allgemeinheit.

Ich misstraue dieser Behauptung vom „wir“, denn zu oft erweist es sich eben als Kuriosität: Einer will gleich mehrere sein. Einer will sich hinter den anonymen anderen verstecken. Manche Journalisten setzen auf diese Formulierung, weil sie damit die Leser sozusagen in die Gesprächssituation hineinnehmen wollen.

Aber das geht meist schief. In diesem Fall auch deshalb, weil ein Stuhl nicht so viele Menschen trägt.

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