Immanuel Voigt über die scharfen Auseinandersetzungen im Zuge des Kapp-Putsches.

Der Morgen des 25. März 1920 ist noch recht kühl. Es ist kurz vor 6 Uhr, also noch vor Sonnenaufgang. In Mechterstädt ist zu dieser Zeit normalerweise fast niemand auf der Straße, anders an diesem Tag. Ein Bewachungskommando, bestehend aus 20 Soldaten, das das „Studentenkorps Marburg“ (kurz StuKoMa) abgestellt hatte, wird nun in Bewegung gesetzt. Männer der 1. und 2. Kompanie unter dem Befehl des Leutnants der Reserve Heinrich Goebel haben den Auftrag, fünfzehn Gefangene nach Gotha zu bringen. Sie hatte man zwei Tage zuvor in dem kleinen Örtchen Thal als angebliche Rädelsführer der „roten Aufständler“ verhaftet. Nun sollen sie vor ein Gericht in der einstigen Residenzstadt gebracht werden. Leutnant Goebel macht vor den Gefangenen wiederholt klar: „Wer es wagt zu fliegen, auf den schießen wir!“

Dann setzt sich die kleine Kolonne auf der heutigen B7 gen Osten in Bewegung. Plötzlich zerfetzen mehrere Schüsse die Stille des Morgens. Schreie werden laut, dann wieder Schüsse. Der Besitzer der Bahnhofsgaststätte in Mechterstädt wurde mehr oder weniger Zeuge des Vorfalls. Nach den ersten Schüssen lugte er zur Tür hinaus und sah einen der leblosen Körper am Boden liegen. Im nächsten Moment herrscht ihn einer der Soldaten an: „Straße frei! Scheren Sie sich in die Häuser.“

Was genau geschehen war, vor allem der Hergang der Bluttat ist bis heute unklar, da von den Opfern keines überlebte. Die offizielle Version der Männer des StuKoMa lautet schlicht, dass alle fünfzehn Gefangenen plötzlich fliehen wollten, sodass man sie bei diesem Versuch erschoss. Das Geschehen verbreitet sich dank eines Radfahrers, der die Leichen auf der Landstraße sieht, in Windeseile im gesamten Hörseltal. Panik greift um sich, die Bewohner befürchten ähnliche Vergeltungsaktionen auch in ihren Orten. Etliche fliehen in die umliegenden Wälder, um sich dort zu verstecken. Doch wie konnte es überhaupt zu diesem Verbrechen kommen?

Auslöser sind die scharfen Auseinandersetzungen im Zuge des Kapp-Putsches Mitte bis Ende März 1920, die nicht nur Gotha sondern auch andere Städte wie etwa Eisenach erfassten. Im hessischen Marburg bestand schon seit dem Herbst 1919 das StuKoMa, also ein Zeitfreiwilligen-Verband, der sich aus Studenten und Korporierten der Stadt rekrutierte und der Reichswehr unterstellt war. Ursprüngliches Ziel ist es, Marburg vor einem befürchteten kommunistischen Überfall, der nie eingetreten ist, zu schützen. So besteht der Verband auch noch im Frühjahr 1920. Mitte März wird dessen Führung einem altgedienten Marineoffizier, Fregattenkapitän a.D. Bogislav von Selchow, übertragen. Obwohl der Kapp-Putsch am 19. März 1920 scheitert, wird unmittelbar danach in Marburg ein Aufruf öffentlich plakatiert und der Bevölkerung verkündet, dass es in Thüringen zum Aufstand gekommen sei. Demnach würden „Banden“ raubend und plündernd durch die Gegend ziehen und die Bevölkerung bedrohen. Das StuKoMa steht bereit, um mit von Selchow und 2000 Mann am „Thüringer-Feldzug“ teilzunehmen. Schon am 20. März ist die Truppe mobil, um anschließend das Vaterland in Thüringen zu verteidigen.

Über Herleshausen marschieren die Männer nach Eisenach, erreichen anschließend Thal und begehen die Morde. Das Verbrechen versuchen die Soldaten kurzerhand zu vertuschen, da eine schnelle Beerdigung der Leichen angeordnet wird. Aber dank eines Mitgliedes des Gothaer Landtages wird dies verhindert und anstelle dessen eine ordentlichen Obduktion angeordnet. Diese ergibt Unmissverständliches: Acht der fünfzehn Gefangenen wurde aus unmittelbarer Nähe in den Kopf geschossen, der Rest erlitt Brust- und Herzschüsse.

Bald schon regte sich ein mediales Interesse an den Ereignissen, gemischt mit Empörung, denn die Obduktion machte klar, dass die Männer allem Anschein nach nicht geflohen waren. Treffend bringt dies der DDP-Abgeordnete Ludwig Haas auf den Punkt: „Es flieht doch keiner mit der Front gegen den verfolgenden Schützen.“ Es kommt zur Anklage einiger Mitglieder des StuKoMa vor einem Kriegsgericht und gleichzeitig zu einem der ersten Justizskandale der Weimarer Republik, da alle Angeklagten freigesprochen werden. Marburgs Ansehen als Universitätsstadt wird dadurch nachhaltig beschädigt. Heute erinnern sowohl dort als auch an der B7 bei Mechterstädt Gedenktafeln an die Morde von 1920.