Weimar. Im Spiegelzelt Weimar tritt Hans-Martin Stier diesen Donnerstag mit der Shipping Company auf. Vorab erzählt er von Freiheit und Verunsicherung.

Als Hans-Martin Stier 17 ist, will er raus: Raus aus Bad Ems. Weg von der Schule. Mittlere Reife reicht. Er ist ein Nachkriegskind, Jahrgang 1950. Die Eltern sind kriegsbedingt aus dem Ruhrgebiet zugezogen. Was sollte ihn also in dem Kur­städtchen halten? Sein Ziel: die See. Später wird er Sänger und Schauspieler werden. Und jetzt verbindet er all das.

Inzwischen ist Hans-Martin Stier Ende 60 – und die Zeit, als er über die Meere fuhr, scheint wieder ganz nah: Er erzählt jetzt auf der Bühne Geschichten, die klingen wie Seemannsgarn; dabei handelt es sich um das, was ihm am Kap der Guten Hoffnung oder mit 6000 australischen Schafen an Bord im indischen Ozean geschah. Kaum zu glauben sei manches, sagt er selbst mit tiefer Stimme. Aber alles habe er genau so selbst erlebt. Und zwischen den Geschichten, die er auf der Bühne erzählt, singt er. So wie am Donnerstag, 13. Juni, im Köstritzer Spiegelzelt in Weimar. Begleitet wird er von der Shipping Company. Das ist seine Band für die ruhigeren Abende. Er hat noch eine Truppe für die lauten Töne – und mit der würde er auch mal gerne in Thüringen auftreten. In Wacken war er schon...

Stier wird nächstes Jahr 70. Aber er denkt nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Vor dem Weimar-Auftritt und an den Tagen danach steht er auf der Bühne des Renaissancetheaters Berlin: „Tanke Sehnsucht". Eine musikalische Suche nach der großen Liebe.

Vom Leichtmatrosen zum Sozialpädagogen

Doch zurück ins Jahr 1967: Hans-Martin Stiers Onkel, der im Krieg bei der Marine war, hat dem Jungen immer wieder vom Meer erzählt. Hans-Martin will aber nicht auf ein Schiff der Bundeswehr; ihn zieht es zur Handelsmarine. Erst mal macht er ein Praktikum auf einem Bananendampfer. Die Männer an Bord sind harte Brocken. Können zulangen. Nicht nur bei der Arbeit. Hans-Martin ist sich nach dieser Probezeit nicht ganz sicher, ob er unter solchen Bedingungen lernen und arbeiten will. Aber diese Zweifel macht er mit sich selbst aus und erzählt den Eltern zuhause in Bad Ems nichts davon.

Nächste Station ist die Schiffsjungenschule in Bremen. Zusammen mit 100 anderen jungen Männern lernt er drei Monate lang all das, was nötig ist, um als Leichtmatrose bei der Handelsmarine anheuern zu können. Dann geht es auf Fahrt, zweieinhalb Monate dauern die Touren. Und er kann heute noch genau sagen, welche Häfen das Schiff anlief und welche Ladung an Bord kam. Südamerika, Nordamerika, rund um Afrika geht es nach Ostasien, weil der Suezkanal damals nicht befahren werden kann.

Sechs-Tage-Krieg. Hans-Martin Stier hat – da ist er noch keine 20 – die halbe Welt gesehen. Aus dem Leichtmatrosen wird ein Matrose – und als er die nötigen Voraussetzungen hat, geht er auf die Seefahrtsschule. Kapitän auf großer Fahrt: Das ist sein Berufswunsch. Aber dann merkt er: zu viel Mathe, zu viel Naturwissenschaften. Und außerdem ist die Seefahrt mitten im Wandel. Den großen Containerschiffen gehört die Zukunft. Hans-Martin Stier aber liebt an der Seefahrt das Althergebrachte: An Bord riecht es nach Ladung und Schmieröl. Im Hafen ist Zeit für Landgang. „Sollte ich auf so einem Stahlpott rumfahren? Nein. Die Häfen sind weit weg. Landgang unmöglich.“ Warum also nicht studieren? Anfang der 1970er-Jahre geht er nach Münster in Westfalen, schreibt sich für Sozialpädagogik ein. Das ist ohne Abitur möglich. Die Berufsausbildung zählt.

Mit schweren Jungs auf der „Outlaw“ unterwegs

Eine Dramaturgin holt ihn ans Stadttheater. Die Musik von Gottfried von Einem fasziniert ihn. Stier gründet die Törner Stier Crew und hat Erfolg: Es gibt damals einen Nachwuchspreis für die beste Rockmusik-Band. Das ist vergleichbar mit dem, was später der „Echo“ war. Hunderte bewerben sich mit ihren Liedern auf Kassetten. Stiers Band macht den 1. Platz 1979 in Würzburg. Sie nimmt zwei Platten auf, hat viele Gigs. Währenddessen hat er sein Studium abgeschlossen – und fährt wieder zur See.

Das Schiff heißt „Outlaw“ – und der Name ist Resozialisierungsprogramm: Auf dem Schiff arbeiten junge Männer als Leichtmatrosen, die kriminell geworden sind und damit am Rande der Gesellschaft stehen. Die Fahrten, die mehrere Monate dauern, sollen ihnen neue Perspektiven ermöglichen. Stier ist ihr pädagogisch geschulter Steuermann. „An Bord hat das gut geklappt. Aber wenn sie nachher in ihren Kiez zurückkamen, rutschten sie wieder ab“, erinnert sich Stier daran, dass dem Projekt die Nachhaltigkeit fehlte. Sozialarbeiter an Bord bleibt eine Episode. Inzwischen ist klar: Hans-Martin Stier will Schauspieler werden. Für eine Schauspielschule ist er, der schon zwei Berufe hat und mittlerweile über 30 ist, bereits zu alt.

Also nimmt er privaten Unterricht. Ihn interessiert das Stanislawski-System und das Method Acting nach Lee Strasberg. Stier kommt an. Seine Filmografie fängt 1987 gleich mit einem Paukenschlag an: „Der Himmel über Berlin“, Regie Wim Wenders. Und weil Stier einer ist, der oft die Ganoven und Zwielichtigen spielen darf, wird er seit Jahrzehnten immer wieder im „Tatort“ und in anderen Krimis besetzt. In Thüringen hat er auch schon gedreht: „Stella und der Stern des Orients“. Axel Prahl und er spielten die Bösewichte. Das war Mitte der 2000er-Jahre in einem kalten Winter am Kickelhahn bei Ilmenau. Der Schnee lag hoch, kalt war‘s, erinnert sich Stier.

Versagen bei den großen Parteien

Vor einigen Jahren hat Stier in Görlitz „Grand Budapest Hotel“ gedreht. „Eine wunderschöne Stadt“, sagt er – und wünscht sich für Görlitz, dass da viele junge Menschen hinkommen, etwa um zu studieren... Dass die Stadt demnächst den ersten AfD-Oberbürgermeister haben könnte – Stichwahl ist am 16. Juni – hört er in unserem Gespräch zum ersten Mal. Ja, zur Wählerschaft der AfD hat er sich schon generelle Gedanken gemacht. „Dabei geht es sicherlich um eine tiefe Verunsicherung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles Nazis sind. Diese Menschen wissen nicht, was mit ihnen passiert – und das macht ihnen Angst“, schätzt er ein – und sieht ein Versagen bei den großen Parteien: Zu wenig Kommunikation mit den Bürgern.

Zeiten der Veränderung, die Ängste auslösen, die gab es auch im Westen, erinnert er sich. „Wir hatten in den 1990ern die ‚Republikaner‘. Und manche aus meiner Verwandtschaft, von denen ich das nicht gedacht hätte, haben die damals gewählt.“ Warum? „Die haben gesagt: Wir wollen den Etablierten mal zeigen, wo‘s lang geht. Viele waren Protestwähler. Und so kommt mir das mit der AfD jetzt auch vor“, stellt er fest.

Und wie schafft die AfD es, so anziehend zu sein? „Sie nimmt Themen und nutzt sie sehr geschickt gegen die etablierten Parteien, denen ja im Moment durchaus der Realitätsbezug fehlt“, so Stier. Was er sich von den etablierten Parteien wünscht: Die sollen sich nicht ständig mit sich selbst beschäftigen. Außerdem wäre er dafür, an die Spitze der Ressorts jeweils Fachleute zu stellen. Auf den Einwurf, dass das jetzt gerade aus schierer Not in Österreich so gemacht wird, lacht er dieses Seemannslachen. Ganz tief. „Nein, so eine Lage brauchen wir nicht.“ Es gelte ja mittlerweile weltweit: „Wer eine große Klappe hat, ist vorne und hat die meisten Mitläufer. Fast erinnert das an die Lage kurz vor dem Ende in der Weimarer Zeit“, sagt Hans-Martin Stier nachdenklich.

Sein Abend im Köstritzer Spiegelzelt wird weit weg sein von diesen politischen Überlegungen. Der Seemann, Sänger und Schauspieler nimmt sein Publikum mit auf große Fahrt zu einer Zeit, als mitten durch Deutschland eine tödliche Grenze verlief – und die Menschen in der DDR von der weiten Welt, die Stier bereist, nur träumen konnten.

Donnerstag, 13. Juni, 20 Uhr, Köstritzer Spiegelzelt Weimar