Lehesten/Weimar. Martin Kohlstedt und das Duo Ätna aus Dresden drehen ein Musikvideo im Thüringer Wald, das international begeistert.

Im nostalgischen VW Santana geht es durch den Wald. Vorbei an Tannen, Kiefern und Fichten. Die Blicke verlieren sich in der Ferne, der Fahrtwind in den Haaren, die Fenster weit offen, die Musik progressiv, der Bass satt. Ziellos fährt der Wagen zwischen unwirklichen Seen und Dörfern im Schiefergebirge im Süden Thüringens umher.

Orte, die in den Bildern der Super-8-Kamera aus der Zeit gefallen wirken. Ein „ganz einfacher Tag ohne Gespräche, ohne Story“ an einem „unechten Ort, der gleich hier um die Ecke liegt“, wie der Pianist und Künstler Martin Kohlstedt aus Weimar über die Aufnahmen in der Lehestener Umgebung später sagen wird. Eine Reise in eine analoge Zeit.

„Der Groove ist ein Auto-Song. Dieses Bild hatten wir gleich im Kopf“, erläutert Demian Kappenstein, Schlagzeuger des Elektroduos Ätna aus Dresden, den Zusammenhang von Ton und Bild. Mit ihm im Wagen sitzt Ätna-Sängerin Inéz Schäfer und eben jener Martin Kohlstedt, der die Noten des Songs „Who are you“ komponiert hat. Ein Lied, das seine Fans eigentlich unter dem Namen Ksycha in Zusammenarbeit mit dem Leipziger Gewandhauschor kennen und das das Dresdener Duo „zerpflückt und was anderes daraus gemacht“ hat, wie Demian Kappenstein erläutert. Das Video plus Song – herausgebracht bei Produzenten-Koryphäe Moses Schneider – feierte Ende April sein Debüt und wurde seitdem tausendfach geklickt und von Menschen aus der ganzen Welt positiv bewertet. Wie kam es dazu?

Zuhause bei Martin Kohlstedt. Ein weiter Raum, eine Hängematte zwischen zwei Holzbalken, zwei Flügeltüren führen auf den halbrunden Balkon mit Weitblick über die Dächer Weimars. Ein „Baumhaus“, wie er seine Wohnung nennt, in der er die vergangenen Monate seit Beginn der Corona-Krise verbracht hat. In der Mitte des Raumes steht ein Flügel. Es gibt Rooibos-Tee.

„Kennengelernt haben wir uns in Istanbul auf dem X-Jazz“, sagt er. Martin Kohlstedt gastierte auf dem Festival und habe während Ätnas Konzert gleich bemerkt, dass sie als Musiker auf demselben Pfad unterwegs sind. „Wir hatten denselben Habitus“, sagt er. Nach weiteren Treffen sei dieser klassische Musikersatz „Wir müssen irgendwann was zusammen machen“ gefallen. Im Januar stand der Track bereits.

Das sogenannte Rework des Kohlstedt-Songs entstand während der Aufnahmen des neuen Ätna-Albums „Made by Desire“, das am 14. Februar erschien. Die Tour zum Album musste das Duo unterbrechen. Wegen Corona. „Acht von 21 Konzerten haben wir nicht gespielt“, sagt Inéz Schäfer. „Und eigentlich hätten jetzt die Festivals angestanden.“ Besonders die Sängerin habe unter den Corona-Maßnahmen zu Beginn gelitten. „Ich bin in ein Loch gefallen. Wir haben zuvor viel gespielt. Ich habe viel nachgedacht“, sagt sie. Dann seien neue Ideen entstanden, und obwohl die Tour zum just erschienenen Tonträger noch nachgeholt werden soll – beispielsweise im Kassablanca in Jena am 29. Oktober – arbeiten die beiden bereits am nächsten Album.

Auch Martin Kohlstedt hat mit der Krise zu kämpfen. „Wir sind bei der 35. Konzertabsage“, sagt er. Die komplette Russlandtour ist ausgefallen. Auch er arbeite aktuell an einem neuen Album. Einem, das aus der Zeit heraus spreche. „Eine Zeit, in der du nicht um dich rum kommst.“ Eine Zwangskonfrontation mit den eigenen Sachen. „Gerade merke ich ganz ursprünglich, dass es zum Klavier zurückgeht.“

Das Musikvideo habe indes überhaupt nichts mit Corona zu tun. „Wir haben exakt einen Tag vor der Kontaktsperre gedreht“, sagt Martin Kohlstedt. Es gibt keine Verbindung, obwohl die Atmosphäre zufällig passt. Denn „man trifft gerade total auf diese Sehnsüchte“, so Kohlstedt. „Dieses Gefühl, umherzufahren, ist ein Ur-Antrieb.“

Und dann ist da doch etwas, das die Freiheit des Fahrens bremst und die Gegenwart in den Blick rückt. Wie Mahnmale spicken weiße, entnadelte Bäume den Wald. Aus großstädtischer Sicht referiere der Titel des Songs „Who are you“ (Wer bist du, wer seid ihr) auch über die Heimat. „Wer bekommt mehr Aufmerksamkeit: Corona oder der Wald?“, fragt Demian Kappenstein. Ein Gedanke, der unbewusst mitschwingt in einem Video, das den deutschen Wald als ein Gut der Heimat thematisiert.

Den Wald, mit dem auch Martin Kohlstedt verbunden ist. „Mein Vater ist Förster. Ich habe einen engen Bezug zur Natur. Dort merkt man, dass es nicht um einen selbst geht.“ Auch eine Botschaft, die in den Bildern mitschwingt. In diesem Nirgendland rund um Lehesten. Und selbst von Filmproduzenten aus Amerika, so der Pianist, seien erste Anfragen gekommen, „wo zur Hölle dieser Ort denn sei“.

Die Band Ätna im Interview