Mit Thomas Thieme sprach Frank Quilitzsch.

Sie haben Figuren der dramatischen Weltliteratur verkörpert, spielen Hauptrollen in Literaturverfilmungen. Doch wie ist es um Ihre Leselust bestellt? Haben Sie ein Lieblingsbuch, Herr Thieme?

Thomas Thieme Da ich die 70 überschritten habe, darf ich Ihnen vielleicht gleich drei nennen: In meiner Jugend ist mir der „Huckleberry Finn“ von Mark Twain näher gekommen. In der zweiten Stufe, im Zenit, wie es so schön heißt, war es Fjodor Dostojewski, vor allem mit dem Roman „Die Brüder Karamasow“. Und jetzt, am Schluss, steht dieser von niemandem gelesene Peter Weiss mit seiner „Ästhetik des Widerstands“.

Schluss ist natürlich vorläufig.

Sie meinen, da kommt noch ein viertes Buch? Gut, falls ich 85 oder 90 werde, aber das weiß man ja nie.

Beginnen wir mit Mark Twain, der eigentlich Samuel Langhorn Clemens hieß und von 1835 bis 1910 in den USA lebte. Ein Vertreter des amerikanischen Realismus, der den Rassismus anprangert, auf dem Mississippi schipperte und mit Goldgräbern unterwegs war. Auch sein Huck Finn ist ein Abenteurer. Das hat Sie als Kind begeistert?

Nicht nur als Kind. Ich bin ja kurz nach dem Krieg geboren und habe noch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen, Karl May und Mark Twain vor allem. Und als ich ein Buch für den Mitteldeutschen Rundfunk einlesen durfte, habe ich „Huckleberry Finn“ gewählt.

Weil Sie sich immer noch mit der Figur identifizieren?

Ganz genau. Ich liebe diesen Huck Finn, weil er so ausgesprochen anarchistisch ist und sich in der Dopplung mit seinem Freund Tom Sawyer erst richtig entfaltet. Daran hat auch mein Alter nichts geändert.

Tom Sawyer ist anders, aber auch kein Musterknabe.

Na ja, Tom Sawyer waren doch wir, Sie und ich. Wir waren Jungs, die aus zivilisierten Verhältnissen kamen und sich ein bisschen gelangweilt haben. Zu meiner Zeit, wir reden über die 60er-Jahre in der DDR, war Anarchie gar nicht möglich. Natürlich hatte auch ich manchmal das Bestreben, die Schule zu schwänzen, doch ich habe es mir nicht getraut. Huckleberry Finn war doch nie in der Schule. Der ist bei seinem versoffenen Vater auf einem Mississippi-Kahn großgeworden und wurde von ihm verdroschen. Der musste eben nicht zur Schule, der musste sich nicht waschen und sich nicht die Zähne putzen. Der musste gar nichts.

Der Roman erschien 1884, acht Jahre nach „Tom Sawyers Abenteuer“. Da hat Mark Twain noch mal kräftig nachgelegt, und es gab höchstes Lob von Ernest Hemingway, der schrieb: Die ganze amerikanische Literatur komme von einem Buch von Mark Twain her, das „Huckleberry Finn“ heiße. Warum? Weil er den amerikanischen Traum lebte. Huck Finn hatte nichts als seine Freiheit, doch die war grenzenlos. Ich sage nur: Mississippi! Und da sehe ich nun Klein-Thieme vor mir, wie er an der Ilm heranwächst…

Stimmt. Auf der Ilm konnte man nicht schippern. Ich bin mal reingefallen. Aber dem Schicksal des Halbstarken entging man auch in Weimar nicht. Da mischte sich ja auch noch anderes mit rein: Cowboys, Elvis, Stones und so weiter. Das waren alles Ablenkungen, so wie Huckleberry Finn eine Ablenkung von meiner Klassenlehrerin war. Huck Finn und meine Lehrerin – wenn man die nebeneinander stellt, was meinen Sie, wer das Spiel gewinnt?