Erfurt. Pflegeheimen fehlt es an Personal. Vor allem Demenzkranke bedürfen viel Zuwendung. Das können immer mehr Einrichtungen nicht leisten. Sie kündigen die Verträge. Für die Angehörigen ist es eine Katastrophe.

Andrea Gottweiß* hatte einst ihrem Mann versprochen, ihn zu Hause zu pflegen. Als das nicht mehr ging, fand sie ein Pflegeheim. Doch der Vertrag wurde nach wenigen Monaten gekündigt. Ihr Mann hält sich derzeit in einem Krankenhaus auf. Das wirft viele Fragen auf – und eine Lösung ist nicht in Sicht, zumal dieser Fall kein Einzelfall ist.

Am meisten belastet die Ehefrau, dass sie ihr Versprechen brechen musste. Sie hat sich fürsorglich um ihren Mann gekümmert – zu Hause, wo es einen großen Garten und viel Natur in dörflicher Umgebung gibt. Aber dann hatte er sie an einem schönen Sommertag plötzlich angegriffen. „Er ist total ausgerastet, hat mich gepackt“, sagt die Frau – und ihre Stimme zittert dabei. Dass ihr Mann mit seinem Übergriff wirklich auf sie gezielt hat, glaubt sie nicht. Er leidet an Demenz. Kurz vor seinem 60. Geburtstag hatte er diese Diagnose erhalten, erste Symptome schon in den Jahren zuvor gezeigt. Schweren Herzens brachte Gottweiß ihren Mann 2021 in ein Pflegeheim. In der zweiten Jahreshälfte 2022 wurde ihr mitgeteilt, dass man den Pflegevertrag kündigen werde. Inzwischen ist das auch formal geschehen. Statt im Pflegeheim lebt der demente Mann seit nunmehr bald sechs Monaten in einem weit entfernt liegenden Thüringer Krankenhaus.

Eine andere Einrichtung ist kaum zu finden

Auf der Suche nach einem neuen Pflegeheimplatz verzweifelt sie zunehmend. Ungefähr 40 Heime hat sie inzwischen abtelefoniert. Die Namen und Telefonnummern der Einrichtungen hat Gottweiß akribisch auf zwei karierte Blatt Papier geschrieben, die vor ihr liegen. Direkt daneben hat sie den dicken Aktenordner gelegt, in den allerdings nur noch einen Teil der Unterlagen passt, die mit der Pflege ihres Mannes zu tun haben. „Jetzt habe ich schon wieder einen neuen angefangen“, sagt sie.

Dieser Fall steht für einen neuen und über alle Maßen besorgniserregenden Trend auf dem Pflegemarkt ganz sicher in Thüringen und sehr wahrscheinlich in ganz Deutschland. Wobei ein großer Teil des Problems – mal wieder – genau darin besteht: Dass Pflege seit Jahren schon nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktioniert, funktionieren muss und inzwischen zu einem Geschäft mit Menschen geworden ist. Bei der Alzheimer Gesellschaft Thüringen beispielsweise klingelt inzwischen regelmäßig das Telefon, weil Angehörige oder Lebenspartner von Demenzkranken Hilfe suchen, nachdem ihnen die Betreiber von Pflegeheimen den Platz gekündigt haben. Erst seit Ende 2022 kenne sie dieses Phänomen, sagt Nadja Braun, die in der Fachstelle Demenz der Alzheimer Gesellschaft arbeitet. Etwa drei Anrufe pro Monat zu derartigen Vorfällen gingen dort inzwischen ein.

In Thüringen gibt es etwa 54.000 Demenzkranke und nur ein Bruchteil von deren Angehörigen oder Ehepartnern wenden sich an die Alzheimer Gesellschaft, da deren Beratungsangebot – räumt Braun ein – noch nicht so bekannt ist, wie es sein müsste oder könnte.

Martin Gebhardt, der den Bereich Altenpflege bei der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein leitet, berichtet, es gebe in den Heimen der Stiftung, die auf die Pflege von Demenzkranken spezialisiert seien, keinen einzigen freien Platz, dafür lange Wartelisten – und seit Neustem ständig weitere Anfragen, ob diese Heime zusätzliche Menschen aufnehmen könnten, für die andere Einrichtungen die Verträge gekündigt haben. „Das ist definitiv neu“, sagt Gebhardt.

Auf der Suche nach den Gründen für derlei außerordentliche Kündigungen von stationären Pflegeverträgen stößt man immer wieder vor allem auf zwei Punkte. Zum ersten, das betont vor allem Gebhardt, hatten auch die Pflegeheime in den vergangenen Monaten unter einer ungewöhnlich starken Krankheitswelle zu leiden. „Wir haben Krankenstände, die haben sich verdoppelt“, sagt Gebhardt. In einzelnen Einrichtungen sei zuletzt etwa jede fünfte Pflegekraft krankgeschrieben gewesen.

Nach Einschätzung des Geschäftsführers des Landesseniorenrats Thüringen, Jan Steinhaußen, zeigt sich darin nicht nur, wie viele Atemwegsinfekte es jüngst gab, sondern auch, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege viele Beschäftigte auch jenseits von Erkältungen, Grippe und Corona krank machten. Die Bereitschaft der Pflegekräfte, sich etwa infolge von Rückenschmerzen oder Stress krank schreiben zu lassen, sei gestiegen, sagt er. Insbesondere bei jüngeren Pflegerinnen und Pflegern.

Schwierig wird es für die, die besonders viel Arbeit machen

Zum zweiten hat diese Krankheitswelle noch einmal massiv verschärft, worunter die Pflege seit Jahren leidet und auch weiterhin leiden wird: Personalmangel. Ein Grund: Pflege sollte jahrelang den Gesetzen des Marktes folgend vor allem billig sein. Daher waren die Einkommen der Pflegekräfte unverhältnismäßig niedrig. Das Image des Berufs hat darunter massiv gelitten, auch wenn sich die Einkommen zuletzt verbessert haben.

Angesichts dessen versuchen nicht wenige Heimbetreiber ausgerechnet solche Menschen wieder aus ihren in der Regel nicht-spezialisierten Einrichtungen herauszubekommen, die ihnen besonders viel Arbeit machen; wie eben Demenzkranke. „Leider muss man bestätigen: Ein Mensch mit einer Demenz kann schon sehr anstrengend sein, er kann sich ja nicht mehr anpassen“, sagt Gebhardt. Die Pflegekräfte würden durch solche Menschen ausgesprochen beansprucht. „Wir leisten da nicht selten das Doppelte von dem, was wir bezahlt bekommen. Die gesellschaftliche Teilung in die, die Pflege für Geld machen, und die, die damit nicht zu tun haben wollen, die wird sich volkswirtschaftlich nicht durchhalten lassen“, sagt Gebhardt.

Grundsätzlich sei die Organisation der Versorgung von alten und pflegebedürftigen Menschen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, „immerhin sind wir alle Teil des Problems“, sagt er. „Wir haben weniger Kinder gekriegt und tun gleichzeitig alles dafür, dass jeder immer länger lebt.“

Braun betont, dass den Kranken selbstverständlich kein Vorwurf zu machen ist. Auch nicht, wenn sie gegenüber anderen Bewohnern oder dem Personal aggressiv werden. „Das ist Teil der Krankheit“, sagt sie.

Auch im Fall des Mannes von Andrea Gottweiß war der Vorwurf, dieser sei gewalttätig gegenüber Dritten geworden, das Argument, mit dem der Träger des Pflegeheims den Vertrag kündigte. „Die hätten doch wissen müssen, was da auf sie kommt, ich habe das immer gesagt“, sagt Gottweiß. Dass es mindestens eine Attacke ihres Mannes auf Pflegekräfte gegeben hat, bestreitet sie nicht. Dass es noch so viele andere gegeben haben soll, überrascht sie: „Die hätten doch darüber mal mit mir reden können“, sagt Gottweiß. „Aber bis auf das eine Mal hat mir nie jemand was dazu gesagt.“ In einem der aufgelisteten Fälle hält sie die Darstellung des Pflegeheims für mindestens stark übertrieben: Ihr Mann soll bei einer Gelegenheit in seinem Zimmer randaliert haben. Kurze Zeit nach diesem angeblichen Vorfall habe sie ihren Mann besucht. In seinem Zimmer „sah alles ganz normal aus“, sagt sie.

Andrea Gottweiß vermutet, der Personalmangel führe auch in dem von ihr ausgesuchten Heim dazu, dass sich die Leitung der Einrichtung von ihrem Mann als Bewohner getrennt hat. Ein weiteres Indiz, das aus ihrer Sicht dafür spricht ist, dass ihr beim Einzug ihres Mannes eine bestimmte Pflegerin als feste Ansprechpartnerin genannt worden sei. „Die habe ich aber fast nie gesehen“, sagt Gottweiß.

Das Vertrauen von Andrea Gottweiß ins deutsche Gesundheits- und Pflegesystem ist weg; dabei ist ihr sehr bewusst, dass sie auf die Krankenhäuser, die Heime, deren Betreiber und auch die Pflegekräfte angewiesen ist. Sie wird ihren Mann nicht wieder zu sich ins Haus ziehen lassen können. Sie sagt: „Ich weiß manchmal gar nicht mehr, ob man nicht überall verarscht wird.“ Da liegt kein Zittern in ihrer Stimme. Dafür Wut.

Es ist eine Wut, die in den nächsten Wochen nur noch größer werden wird, wenn sie nicht bald einen Platz für ihren Mann findet.

* Die Frau, die wir hier Andrea Gottweiß nennen, möchte anonym bleiben