Berlin. Sensation im Wattenmeer: Forscher haben neue Beweise für eine legendäre Stadt entdeckt. Die Rede ist von einem “Atlantis der Nordsee“.

Um den versunkenen Ort Rungholt ranken sich viele Legenden: Sie erzählen von einer reichen mittelalterlichen Stadt im Norden, die mit ihrem Handel florierte – bis sie im Jahr 1362 einer Sturmflut zum Opfer fiel. Schriftsteller wie Theodor Storm oder Detlev von Liliencron griffen den Mythos in ihren Werken auf. Lange war Rungholt vor allem: bloß eine Legende. Bis die Geschichtswissenschaft im Jahr 1938 die Existenz der Stadt, des "Atlantis des Nordens", wie es viele nennen, bestätigte. Seitdem tauchen immer wieder Überreste in dem Gebiet nahe der Insel Pellworm in der Nordsee auf.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben kürzlich einen sensationellen Fund gemacht: Die Kirche der Stadt konnte im Wattenmeer lokalisiert werden. Das gibt den Forschenden eine Antwort auf die über 100 Jahre ungeklärte Frage nach dem Standort Rungholts.

Rungholt: So viele Rätsel umgeben die versunkene Stadt

Der Ort Rungholt hat wohl zwischen den Nordseeinseln Pellworm und der Halbinsel Nordstrand gelegen. Die Siedlung lag auf der Insel Strand. Der Name Rungholt bedeutet so viel wie "Niederholz": Das ist ein anderes Wort für Unterholz oder Busch. Alte Karten beweisen, dass in der Nähe der Stadt ein kleiner Wald auf hügeligem Gelände gelegen haben muss. Das ist ein Indiz für die Existenz von Rungholt.

Auch für die verheerende Sturmflut gibt es Belege. In den Legenden erzählte man sich von einer Strafe Gottes für Gotteslästerungen innerhalb der Stadt. Die Forschung geht aber davon aus, dass die Deiche der Siedlung der Flut nicht standhalten konnten. Heute sind nur noch wenige Halligen, so bezeichnet man kleine, wenig geschützte Inseln in der Nordsee, übrig geblieben.

Nahe der Insel Pellworm, im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, lag die sagenumwobende Stadt Rungholt. 1362 versank sie im Meer. (Symbolbild)
Nahe der Insel Pellworm, im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, lag die sagenumwobende Stadt Rungholt. 1362 versank sie im Meer. (Symbolbild) © 3quarks/iStock

Der Forscher Andreas Busch fand zwischen 1921 und 1972 Spuren, die auf Rungholt deuteten: Darunter Keramik-Krüge und Überreste von Häusern und Zisternen. Er lokalisierte die Stadt im Westen und Süden der Hallig Südfall zwischen Pellworm und Nordstrand. Einige Jahre später machte der Ethnologe Hans-Peter Duerr mit ein paar seiner Studierenden weitere Funde – und verordnete die versunkene Siedlung nordwestlicher als Busch. Lange blieb die Frage unbeantwortet, wo genau das "Atlantis des Nordens" lag. Bis jetzt.

Wattenmeer: Warum ist der Fund der Kirche so besonders?

Im Mai 2023 haben Forschende in einem Gemeinschaftsprojekt eine Antwort gefunden: Sie haben den Standort der Rungholter Kirche lokalisieren können. Das berichteten das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein (ALSH), das Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie (ZBSA), die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) in einer gemeinsamen Pressemitteilung. All diese Institutionen waren an dem Projekt beteiligt.

Wie ist das Team auf die Kirche gestoßen? Die Forschenden konnten mithilfe von Messungen und magnetischen Kartierungen nahe der Hallig Südfall eine etwa zwei Kilometer lange Kette von mittelalterlichen Siedlungshügeln erkennen. Bei einem der Hügel offenbarte sich dann eine Struktur, die einem Kirchen-Fundament ähnelte – und sich schließlich einem 40 Meter mal 15 Meter großen Gotteshaus zuordnen ließ. Anschließend begann das Team, gezielt im Sediment zu bohren, um Siedlungsreste erfassen zu können.

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„Damit reiht sich der Fund in die großen Kirchen Nordfrieslands ein,“ erklärt Bente Sven Majchczack, Archäologe im Exzellenzcluster ROOTS an der CAU Kiel in der Pressemitteilung. Ruth Blankenfeldt, Archäologin am ZBSA fügt hinzu: „Die Besonderheit des Fundes liegt in der Bedeutung der Kirche als Mittelpunkt eines Siedlungsgefüges, das in seiner Größe als Kirchspiel mit übergeordneter Funktion interpretiert werden muss.“

Der Fund ist bedeutend: Endlich können Forscherinnen und Forscher Rungholt auf der Karte präzise verorten. Die lange diskutierte Forschungsfrage nach der Lage der Stadt ist beantwortet.

Versunkene Stadt – darum sind die Funde in Gefahr

Bisher wurden in dem untersuchten Gebiet, das über zehn Quadratkilometer reicht, bereits 54 Siedlungshügel, systematische Entwässerungssysteme, ein Seedeich mit Seehafen sowie zwei Standorte kleinerer Kirchen gefunden. Diese spannenden Entdeckungen seien aber durch Erosionen gefährdet, wie Hanna Hadler vom Geographischen Institut der JGU Mainz in der Pressemitteilung erklärt: „Um Hallig Südfall und in anderen Wattflächen sind die mittelalterlichen Siedlungsreste bereits stark erodiert und oft nur noch als Negativabdruck nachweisbar. Dies zeigt sich auch im Umfeld der Kirchwarft sehr deutlich, so dass wir die Erforschung hier dringend intensivieren müssen.“