Weimar. Der neue Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora steht vor großen Herausforderungen. Er soll die Zukunft der Gedenkstätten auf die Zeit nach dem Tod der letzten Überlebenden ausrichten.

Am Lagertor stand jüngst ein Gerüst. Will der neue Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, gleich mit einer großen Renovierung ein Zeichen setzen? Nein. Das macht er im Gespräch mit dieser Zeitung deutlich. Wagner, der im Herbst sein neues Amt antrat, kennt die Gegebenheiten gut, war schon in früheren Jahren hier in leitender Funktion unter Volkhard Knigge tätig, ehe der Historiker 2014 als Geschäftsführer zur Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in Celle wechselte. Nun kehrt er zurück - und hat große Aufgaben vor sich. Zu den Herausforderungen zählt vor allem auch, die Zukunft der Gedenkstätten auf die Zeit nach dem Tod der letzten Überlebenden auszurichten. Für Wagner ist klar: „Wir sind hier an einem Tatort.“ Deshalb will er auch verstärkt die Täter und die Mitläufer in den Blick nehmen - und das Umfeld, das die Taten erst möglich machte.

Wird das Torgebäude jetzt grundlegend saniert?

Nein, das sind nur oberflächliche Restaurierungsarbeiten, die witterungsbedingt nötig geworden sind.

Es stellt sich ja die generelle Frage: Was darf wie instandgehalten werden auf historisch derart sensiblem Gelände?

Eigentlich ist schon das Wort restauriert, das ich verwendet habe, nicht ganz korrekt. Was wir machen, das sind Konservierungsarbeiten, um den Verfall zu verlangsamen. Wir haben seit den 1990er Jahren in allen Gedenkstätten ein Verbot durchgesetzt: das sogenannte Rekonstruktionsverbot.

Warum?

Wir wollen keinen Fake. Die Glaubwürdigkeit ist eines unserer ganz hohen Güter, mit dem wir agieren, gerade auch mit Blick auf Auschwitz- und Holocaust-Leugnung sowie Geschichtsrevisionismus. Das heißt: Die baulichen Relikte, die wir in den Gedenkstätten haben, sind Beweismittel. Beweismittel für Verbrechen, die hier stattgefunden haben. In dem Augenblick, in dem wir anfangen, Beweismittel nachzubauen, verändern wir einen Tatort nicht nur, es ist auch der erste Schritt in die Geschichtsfälschung. Also: Unsere Aufgabe ist die der Spurensicherung. Wir müssen wie Kriminalisten denken.

Wie verhält es sich denn mit den digitalen Möglichkeiten der Nachbildung vergangener Wirklichkeit?

Das konnten wir, als vor mehr als zwei Jahrzehnten das Rekonstruktionsverbot formuliert wurde, noch nicht einschätzen. Aber inzwischen gibt es viele Möglichkeiten einer solchen Rekonstruktion, etwa durch Augmented Reality.

Das bedeutet, dass digitale Objekte in die Realität projiziert und sozusagen Vergangenheit erlebbar gemacht werden kann. Wie stehen Sie dazu?

Neue technische Möglichkeiten sind zunächst einmal faszinierend. Auch ich kann mich dem nicht entziehen, wenn ich etwa mit der 3D-Brille auf der Nase virtuell durch KZ-Baracken gehe. Mittlerweile wird dies aber stark diskutiert mit Blick auf das Rekonstruktionsverbot.

Und wie ist Ihre Haltung?

Es stellt sich die Frage, ob dieselben Regeln gelten wie bei analogen Rekonstruktionen? Und letztendlich würde ich sagen: Ja.

Heißt das: Was über die Zeit verloren oder kaputt gegangen ist, ist tabu?

Es gibt durchaus auch bei den dinglichen Relikten Möglichkeiten der Nachbildung, ohne ihnen sozusagen den Anstrich des Authentischen zu geben. Ein Beispiel ist der Arrestzellenbau und die ihn umgebende Mauer in Mittelbau-Dora, die in den 1950er Jahren gegen den Widerstand ehemaliger Häftlinge abgetragen wurden. Dieses Lagergefängnis war umgeben von einer riesigen Mauer, die dieses Areal wie ein Niemandsland vom Rest des Lagers abgetrennt hat. Hinter dieser Mauer fanden Hinrichtungen, Folterungen, Morde statt. Seit den 1950ern gab es nur noch die Grundmauern. Über einen Gestalterwettbewerb haben wir erkundet, wie die vorhandenen Relikte gegen Witterungseinflüsse gesichert und zugleich ehemalige architektonische Strukturen sichtbar gemacht werden können. So haben wir dann auf die Grundmauern Stampfbetonmauern errichten lassen. Damit wurde die vorhandene Struktur als Beweismittel dauerhaft gesichert und wir haben die Machtverhältnisse, die aus der architektonischen Struktur ersichtlich sind, zitiert. Und das alles, ohne zu rekonstruieren. Denn schon optisch wird sofort klar, was original ist und was Zitat ist.

Wie geht es Ihnen mit dieser Lösung?

Ich fremdel immer noch so ein bisschen damit. Aber zumindest ist es gelungen, die bauliche Struktur für Besucher sichtbar zu machen und zugleich die Relikte zu sichern.

Die Zeit fordert ihren Tribut, oder?

Stein zerbröselt irgendwann… Letztlich muss man sich entscheiden, ob man den Weg des kontrollierten Verfalls wählt, und das haben wir in vielen Fällen getan, oder ob man in ausgewählten Bereichen einen anderen Weg wählt, so wie beim Arrestzellenbau in Mittelbau-Dora.

Kommt denn die Botschaft beim Buchenwald-Besucher vom Tat- und Leidensort an, wenn er durch das Lagertor tritt und vor sich einen einstigen Appellplatz sieht?

Ich verlange nicht von unseren Besuchern, dass sie erschrocken sind. Und das ist auch gar nicht uns didaktisches Ziel. Das gab es in den 1970er Jahren, als auf die sogenannte Überwältigungspädagogik gesetzt wurde. Aber davon sind wir lange weg.

Warum wollen Sie nicht überwältigen?

Weil wir aus den Erfahrungen der Geschichtsdidaktik wissen, dass Überwältigung keinen Reflexionsprozess auslöst. Wir betreiben keine Betroffenheitspädagogik. Was wir wollen, ist, dass die Menschen nachdenken, wie es zu diesen Verbreche hier überhaupt kommen konnte. Dass das nicht ohne Emotion geht, ist völlig klar. Wenn ich im Krematorium stehe und weiß, dass Tausende Menschen in diesen Öfen verbrannt wurden, wenn ich weiß, dass im Keller Menschen an Haken aufgehängt wurden, dass Menschen in den Baracken elendig verreckt sind an Hunger und Krankheiten, dann stellt sich Fassungslosigkeit ein. Dabei darf es aber nicht stehenbleiben. Wir wollen zum Nachdenken anregen und nicht durch Horror und dergleichen beeindrucken, erschrecken und überwältigen. Das ist bereits im Beutelsbacher Konsens für die historisch-politische Bildung verankert.

Was hat es mit dem Kontroversitätsgebot in diesem Zusammenhang auf sich?

Wir wollen nicht indoktrinieren. Wir wollen hier keine Mastererzählung verkaufen. Und selbst wenn diese Mastererzählung noch so gut gemeint und ethisch fundiert wäre, wie zum Beispiel, dass man Demokratie und Menschenrechte achten muss: Wir wollen unseren Gästen nichts aufoktroyieren. Wenn es denn eine Botschaft gibt, dann ist es eine, die sich unsere Besucher selbst erarbeiten müssen.

Und wie sieht Ihre Botschaft aus, Herr Wagner?

Natürlich arbeiten wir in einem Korridor der Achtung der Menschenrechte, der Achtung der Demokratie - und alles, was jenseits liegt, hat in einer Gedenkstätte nichts verloren. Aber ich will keine Sinnstiftung betreiben, die sich gewissermaßen aus heilloser Geschichte ableiten ließe.

Heillos?

In dem Sinne, dass das, was hier geschehen ist, sinnlose Verbrechen waren. Also: Ich will dem nicht noch hinterher einen Sinn zusprechen. Die Menschen sind hier sinnlos gestorben. Und deshalb weigere ich mich, irgendwelche politischen, theologischen oder metaphysischen Heilslehren zu verkünden. Wir betreiben historisch-politische Bildung. Das heißt, wir wollen unseren Gästen ermöglichen, sich aus der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte selbst ein Urteil über die Geschichte und auch über die Gegenwart zu erarbeiten. Wenn das am Ende für den Besucher heißt, ich möchte Menschenrechte und die Demokratie achten, dann war unsere Arbeit erfolgreich.

Was ist in diesem Zusammenhang mit Jana aus Kassel, die meint ihr Querdenken-Widerstand sei wie der von Sophie Scholl und der Weißen Rose zur Zeit der Nazi-Diktatur?

Hier sehen wir den Unterschied von Geschichtsbildern und Geschichtsbewusstsein. Was wir wollen, ist die Stärkung des Geschichtsbewusstseins. Es bedeutet, historische Prozesse einschließlich ihrer Ursachen und Folgen und die historische Bedingtheit des eigenen Lebens zu verstehen. Und das setzt historisches Urteilsvermögen voraus. Dies zu stärken ist Ziel unserer Arbeit. Was Jana aus Kassel offenbart hat, sind Geschichtsbilder und nur rudimentär vorhandenes historisches Wissen. Offensichtlich hat sie schon einmal etwas von Sophie Scholl gehört hat, sonst käme sie nicht auf diesen absurden Vergleich. Das gilt auch für die Eltern, die ihre Tochter bei einer Corona-Demo in Karlsruhe dazu zu sagen brachten, sie fühle sich wie Anne Frank.

Und was sagt uns das?

Es beweist, dass die Kenntnis von historischen Fakten und Geschichtsbewusstsein nicht deckungsgleich sein müssen. Der Geschichtsunterricht beschränkt sich viel zu oft darauf, Zahlen, Daten und Fakten zu lernen. Aber es kommt eben nicht zur Ausprägung von Geschichtsbewusstsein. Und dann passiert so etwas wie bei Jana aus Kassel oder bei den Eltern des Mädchens, das seinen Geburtstag wegen Corona nicht so groß feiern konnte, wie es ihm versprochen worden war ...

Ist diese Umdeutung etwa auch von „Gesicht zeigen“ oder „Wir sind das Volk" schon Teil der rechtsextremen 180-Grad-Wende in der Geschichte?

Wir müssen jedenfalls dieser Entwicklung massiv etwas entgegensetzen, und zwar eine historisch begründete und ethisch fundierte Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart. Immer wieder zeigt sich gefährliches Halbwissen durch ideologisch verzerrte Geschichtsbilder. Und wir als Gesellschaft haben einen Anteil daran, dass es so gekommen ist, weil unsere Erinnerungskultur Defizite hat. In den vergangenen 20 Jahren haben wir - also im medialen und politischen Diskurs - eine Art Wohlfühl-Erinnerungskultur entwickelt. Dabei wird der Blick fast ausschließlich auf die Opfer gelenkt und nicht gefragt, warum Menschen überhaupt zu Opfern werden konnten. Das Ergebnis ist - salopp formuliert: Trauern ohne Nachzudenken. Aber Weinen allein bildet nicht. Es ist zu einfach, nur um die Opfer zu trauern oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren. Wenn man nicht nach den Tätern fragt, ist die Fokussierung auf die Opfer ein Entlastungsnarrativ, und sie ist – mit Blick auf die breite Mitmachbereitschaft der Deutschen im Nationalsozialismus – eine Anmaßung. Gefragt ist nicht die Identifikation mit den Opfern, sondern Empathie - und Reflexion.

Es gibt also die Idee des historisch entleerten Gleichsetzen der Opfer des 20. Jahrhunderts… Wohin führt das?

Dazu, dass eine Jana aus Kassel nicht nur behauptet, sie sei eine Art Wiedergeburt von Sophie Scholl. Ich bin mir so gut wie sicher, dass diese Jana auch glaubt, dass sie in der Tradition der Weißen Rose gegen ein diktatorisches System kämpft. Und dann gibt es noch das alte Problem der Gleichsetzung von Gewalterfahrungen im Nationalsozialismus und nach 1945 – ohne nach Ursache und Wirkung zu fragen und sozial- und ideologiegeschichtliche Kontexte zu beachten.

Was wollen Sie dagegen tun?

Für mich ist ganz wichtig, dass sich die Gedenkstättenarbeit viel stärker mit den Tätern, den Zuschauern und den Profiteuren der NS-Verbrechen auseinandersetzt. Ich denke da nicht zuerst an die NS-Schergen, sondern an das Funktionieren der NS-Gesellschaft, einer Gesellschaft, die radikal organisiert war, Es geht um die Frage, was die Deutschen in der allergrößten Mehrheit angetrieben hat, sich an den NS-Verbrechen zu beteiligen - und sei es nur als Zuschauer. Denn die Zahl derer, die Widerstand leisteten, war tatsächlich sehr klein. Die meisten aber haben aus freien Stücken mitgemacht, auch weil die Ausgrenzung anderer mit Vorteilen für die eigene Person verbunden war. Es geht also um die Verheißungen der Ungleichheit. Das zu beleuchten, das ist eine große Aufgabe für die Gedenkstätten, und das durchaus mit Aktualitätsbezug, denken Sie etwa an den von der AfD propagierten „solidarischen Patriotismus“. Das ist nichts anderes als die alte rassistische NS-Idee von der „Volksgemeinschaft“, nur im neuen Gewand.