Jena. Weil die bürgerlichen Gesellschaft in Ostdeutschland historisch bedingt lange zu passiv war, stellen sich vor allem Linke und Staatskritiker den Rechten in den Weg. Trotzdem hat Ostdeutschland beim Kampf gegen Rechtsradikalismus große Fortschritte erzielt. Ein TLZ-Gastbeitrag von Matthias Quent.

Dr. Matthias Quent stammt aus Arnstadt, ist Soziologe und Rechtsextremismusforscher. Er leitet das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) der Amadeu Antonio Stiftung in Jena. Am Montag, 5. August, erscheint sein Buch: Deutschland rechtsaußen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können, 300 S., Piper Verlag, 18 Euro. Dieser Text ist ein geraffter Auszug aus dem Kapitel Ostdeutschland: eine Projektionsfläche.

„Nicht nur auf der Deutschlandkarte liegt der Osten rechts außen. Auch die politische Kultur ist in den neuen Bundesländern deutlich rechter. Das zeigen Wahlergebnisse und Einstellungsstudien regelmäßig. Unbestreitbar groß sind die Gefahren für die Demokratie in Thüringen durch die Höcke-AfD.

Rechtsradikale Demonstrationen und Neonazikonzerte finden häufiger und mit mehr Teilnehmenden in den neuen Bundesländern statt. Die Zahl rechter Gewalttaten ist in Ostdeutschland in Relation zur Zahl der Einwohner dreimal höher als in Westdeutschland.

Was oft übersehen wird: In allen ostdeutschen Bundesländern zusammen leben weniger Wahlberechtigte als in Nordrhein-Westfalen. Wäre die AfD nur eine ostdeutsche Regionalpartei, wären die Herausforderungen der Demokratie in Deutschland natürlich deutlich kleiner, doch in absoluten Zahlen gemessen leben die meisten Wähler der Partei in Westdeutschland.

Simple Erklärungen greifen immer zu kurz

Hätten Medien, Politik und Zivilgesellschaft sich intensiver mit Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus in den alten Bundesländern auseinandergesetzt, dann wäre heute nicht nur das rechtsradikale Wählerpotenzial insgesamt deutlich kleiner, sondern die Interventionen westdeutscher Meinungsführer im Osten der Republik auch glaubwürdiger.

Das Erstarken radikaler und populistischer rechter Parteien in vielen westlichen Staaten zeigt: Jeder Erklärungsansatz, der die Komplexität der Gemengelage zugunsten einer einfachen Antwort ignoriert, greift zu kurz. Neonazistische Umtriebe, rassistische Übergriffe und die Verdrängung der Verantwortung für Nationalsozialismus und Schoah haben ihre Spuren in der politischen Kultur hinterlassen – in beiden Teilen der Bundesrepublik. Eine Stunde Null der politischen Einstellungen hat es nach 1945 nirgends gegeben. Die Aufklärung über Ursachen des Rechtsradikalismus, die in Ostdeutschland besonders sichtbar werden, ist auch für die Entwicklung andernorts wichtig – nicht, weil es in den alten Bundesländern keine Rechtsradikalen gibt,

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. Davon kann auch der Westen lernen. Was prägt und erklärt also die besondere Situation im Osten? Die DDR war autoritär strukturiert sowie ethnisch und kulturell relativ homogen. Der Transformationsprozess nach der Vereinigung stellte die materiellen und immateriellen Grundlagen der Ostdeutschen infrage. Obwohl sich in Ostdeutschland heute die wirtschaftliche Situation massiv verbessert hat, die allgemeine Lebenszufriedenheit stark angestiegen ist und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie insgesamt in den vergangenen dreißig Jahren gestiegen ist, liegen Werte zur Unterstützung der demokratischen Kultur deutlich unter den Vergleichswerten in Westdeutschland.

Nach der Vereinigung mussten viele Ostdeutsche um ihre materielle Existenz kämpfen. Erst später, mit weitgehender ökonomischer Absicherung, wurden die politisch-kulturellen Spannungen sichtbar. Allen Fortschritten zum Trotz fühlen sich viele Menschen kulturell benachteiligt und abgehängt. Mehr Ost- als Westdeutsche empfinden die westliche Demokratie, die liberale Kultur und Einwanderung als Fremdkörper. Hinzu kommt: Nach wie vor ist die wirtschaftliche Lage angespannter als im Westen. Neonazis, die die Rolle der Fußtruppen übernehmen, sind seit Jahrzehnten etabliert und normalisiert.

Dr. Matthias Quent stammt aus Arnstadt, ist Soziologe und Rechtsextremismusforscher. Er leitet das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) der Amadeu Antonio Stiftung in Jena. 
Dr. Matthias Quent stammt aus Arnstadt, ist Soziologe und Rechtsextremismusforscher. Er leitet das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) der Amadeu Antonio Stiftung in Jena.  © Sio Motion.

Gut ausgebildete, mobile, junge und kulturell offene Menschen sind aus dem Osten weggezogen, darunter viele Frauen. Es herrscht ein latenter Männerüberschuss: In Chemnitz kommen bei den 18- bis 29-Jährigen 121 Männer auf 100 Frauen. Wirtschaftliche Gründe und die kulturelle Attraktivität der Großstädte haben die Jungen aus dem Osten gelockt; auch wenn allmählich eine Trend-Umkehr einsetzt, denn ostdeutsche Regionen verzeichnen wieder größere Rück- und Zuwanderung. Gerade weltoffene Menschen verlassen Ostdeutschland aber auch wegen der rechteren politischen Kultur und aus Angst vor Gewalt von rechts außen.

Eine Befragung von Betroffenen rechter Gewalt in Thüringen zeigt: Jeder Fünfte gab an, Thüringen aus Angst vor rechter Gewalt gern verlassen zu wollen. Ziviler Bürgersinn gegen Rassismus und Rechtsradikalismus über politische Lagergrenzen hinweg ist im Vergleich zu den alten Bundesländern im Osten eher gering ausgeprägt. Dafür ist das Misstrauen in staatliche Autoritäten größer.

Ziviler Bürgersinn nicht besonders gut ausgeprägt

Das hat historische und aktuelle Gründe: Eine breite Zivilgesellschaft, die im heutigen Sinne die liberalen Werte unterstützt und darauf drängt, diese umzusetzen, war in der DDR-Diktatur nicht vorhanden. Regimekritiker, die sich beispielsweise in Kirchenkreisen organisierten, standen meist in Opposition zum Staat. Aber auch heute noch werden Menschen vom Engagement gegen rechts abgehalten: Vielen fällt es schwer, sich gegen rechts zu engagieren, weil Gegenproteste schnell als „linksextrem“ markiert werden. Durch die jahrelange Passivität der bürgerlichen Gesellschaft sind es vor allem linke und staatskritische Aktivisten, die sich den Rechtsradikalen in den Weg stellen. Rechtsradikale Kader und Medien – oftmals aus Westdeutschland – glorifizieren ostdeutsche Problembürger als die neue Avantgarde der Reaktion.

Ostdeutschland hat den Kampf gegen den Rechtsradikalismus längst aufgenommen und dabei erhebliche Fortschritte erzielt, auch wenn die Herausforderungen groß bleiben. Brandenburg hat sich 2013 zum Beispiel eine Antirassismusklausel in die Landesverfassung geschrieben: „Das Land schützt das friedliche Zusammenleben der Menschen und tritt der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts entgegen.“ Das ist nicht nur ein Lippenbekenntnis: Seit Jahren unterstützt das Bundesland zivilgesellschaftliches Engagement und den Austausch zwischen Forschung, Behörden und Zivilgesellschaft mit besonders beachtlichen Erfolgen. Andere Bundesländer sollten sich daran ein Beispiel nehmen, denn die Verfassungsklausel stärkt vor allem die zivilgesellschaftlichen Akteure, die besonders unter Beschuss von rechts außen stehen.

Überall in Ostdeutschland fördern die Länder demokratisches Engagement und Aktivitäten gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus. Das Wirken der vielen Engagierten zeigt, dass diese Regionen keineswegs verloren sind. Leipzig, Jena und Potsdam sind bundesweit Leuchttürme der Demokratisierung. Durch das Engagement unzähliger Menschen in zivilgesellschaftlichen Initiativen, Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen, Verbänden, Parteien, Schulen und immer stärker auch in Unternehmen wächst der Widerstand gegen die jahrzehntelange rechtsradikale Alltagspräsenz. Selbst in kleinen Ortschaften wie Themar in Südthüringen, wo im Sommer 2017 mehr als 6000 Neonazis zu einem Hasskonzert zusammenkamen, wehren sich Menschen mit großem Engagement gegen die Rechtsradikalen.

Aus der neuen Suche nach nationaler oder subnationaler Identität spricht eine Reaktion auf die empfundene Kränkung, für die globalisierte Welt austauschbar zu sein. Diese Suche kann dafür mobilisiert werden, die Ursachen der Kränkung pauschal anderen Menschengruppen zuzuschreiben, etwa „den Muslimen“, „den Wessis“ oder „den Juden“. Sie steht dem Ziel entgegen, dass sich Menschen als Menschen begegnen und anerkennen können, als Gleiche unter Gleichen.

Diversität und Universalität im Blick

Exklusive Identitäten, die durch Geburt, Abstammung oder Herkunft definiert werden, bergen die Gefahren einseitiger Überhöhung und Ausgrenzung. Außerdem können damit verbundene Ewigkeits- und Unveränderlichkeitsansprüche an projektive Kategorien wie „Heimat“ nur enttäuscht werden. Diese schon heute absehbaren Enttäuschungen werden jedoch immer wieder für Reaktionäre mobilisierbar sein. Was aus all diesen Beobachtungen und Erkenntnissen deutlich wird: Eine Politik, die nicht auf die Beseitigung aktueller Diskriminierung abzielt, sondern zu politischen Zwecken historische Besonderheiten über andere erhebt oder ein Korsett erzwungener Vergemeinschaftung bildet, ist nicht fortschrittlich, sondern partikularistisch. Ein neuer Zusammenhalt in der Gesellschaft der Vielfalt kann nicht auf dem Wettbewerb um kulturellen Eigenheiten gründen, sondern muss auf der Anerkennung von Gleichberechtigung, Diversität, humanistischem Universalismus und der Legitimität von Interessenskonflikten beruhen.

Eine vielfältige Gesellschaft braucht inklusive, gleichwertige und flexible Identitätsangebote, die prinzipiell allen offenstehen: als Mensch, Weltbürgerin oder Demokrat. Es wäre unvernünftig, ja, verantwortungslos, diese alten Versprechen gerade jetzt aufzugeben, wo wir ihnen näher sind als je zuvor.“

Am Donnerstag, 22. August, öffentliche Buchvorstellung um 18 Uhr im Historischen Rathaus in Jena ; Eintritt frei