Berlin. In Mecklenburg-Vorpommern wurde ein Sechsjähriger Junge offenbar von einem 14-Jährigen getötet. Der Fall wirft viele Fragen auf.

Mit einem Messer soll ein 14-Jähriger einen sechsjährigen Jungen aus Pragsdorf bei Neubrandenburg getötet haben. Der Fall erschüttert. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kind oder ein Jugendlicher einem anderen jungen Menschen so etwas antut. Zu Beginn des Jahres erschütterte der Fall der 12 Jahre alten Luise die Bundesrepublik.

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Luise wurde im März im nordrhein-westfälischen Freudenberg mutmaßlich von zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, getötet. Die Ermittlungen zu dem Fall dauern an, vieles wurde vor der Öffentlichkeit unter Verschluss gehalten.

Was von diesen Fällen bleibt, ist vor allem die Fassungslosigkeit: Kinder – oder Jugendliche – töten ein Kind, in beiden Fällen offenbar mit etlichen Stichen. Die mutmaßlichen Täter und Täterinnen sind dabei mit ihren Opfern bekannt und hatten diese vor der Tat noch getroffen.

Die Fälle werfen vor allem eine Frage auf: Warum töten Kinder? Gelten sie doch in unserem Bild eben gerade als schutzbedürftig, als unschuldig, nicht nur strafrechtlich, sondern zu großen Teilen auch moralisch. Doch mit den Fällen in Freudenberg und Pragsdorf bekommt das Bild des unschuldigen Kindes Risse, hier stehen Kinder im Verdacht, Täter zu sein.

Trauer am Tatort: Unbekannte haben am Fundort des ermordeten zwölfjährigen Mädchens Luise, nah an der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen, Blumen aufgestellt.
Trauer am Tatort: Unbekannte haben am Fundort des ermordeten zwölfjährigen Mädchens Luise, nah an der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen, Blumen aufgestellt. © dpa | Roberto Pfeil

Solche Fälle sind extrem selten. Ermittler, Jahrzehnte im Job, berichten, dass sie dies nie erlebt hätten, wohl nie nochmals erleben werden. In gut zehn Fällen pro Jahr sind Kinder in einem Tötungsdelikt beschuldigt, die Zahl ist konstant. Wie alt die Opfer sind, wird polizeilich nicht erfasst. Die Fallzahlen sind so gering, dass sie kaum allgemeine Schüsse oder Trends erkennen lassen – außer, dass die Täter in neun von zehn Fällen Jungen sind. Das macht den Fall in Freudenberg mit zwei Täterinnen so besonders.

Es sind eher psychologische und soziale Faktoren, die eine schwere Gewalttat eines Kindes befördern können. Oft kommt vieles zusammen, was bereits mit Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft beginnen kann. Der Jugendpsychiater Helmut Remschmidt forscht seit Jahren zu Gewalt von Kindern und macht etwa auch eine niedrige Herz-Ruhefrequenz und niedrigen Hautwiderstand als biologische Faktoren aus, die „mit einer geringeren Ängstlichkeit assoziiert“ sind, schreibt Remschmidt in seinem Buch „Wenn junge Menschen töten“.

Fachleuten wie Remschmidt fällt immer wieder eine psychische Erkrankung bei stark aggressiven Jugendlichen und Kindern auf, das Fehlen von Gefühlen wie Empathie oder Reue, aber auch andere Persönlichkeitsstörungen, etwa eine sehr schwache Kontrolle von Impulsen – entscheidend: fehlende Selbstkontrolle, die sich sonst vor allem in den ersten Lebensjahren ausprägt. Kommt Drogenmissbrauch bei Kindern hinzu, kann das zusätzlich enthemmen.

Missbrauch in jungen Jahren macht Menschen oft selbst später zu Tätern

Oftmals aber hängen eben diese Faktoren vor allem mit den sozialen Umständen eines Kindes zusammen. „In der Gewaltforschung sehen wir den Trend, dass junge Täter bereits in frühen Jahren in der eigenen Familie Gewalt und Ablehnung erleben. Das prägt einen jungen Menschen. Gewalt ist nicht selten erlernt, aus dem Umfeld“, sagt Kriminologe Baier. Andere Fachleute bestätigen Missbrauch in der Familie als entscheidend für spätere Gewalt-Karrieren von Kindern und Jugendlichen.

Gewalt von Jugendlichen ist über viele Jahre zurückgegangen. Wie der aktuelle Trend verläuft, ist noch unklar.
Gewalt von Jugendlichen ist über viele Jahre zurückgegangen. Wie der aktuelle Trend verläuft, ist noch unklar. © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Ohnehin spielt die Familie eine Schlüsselrolle, auch um eine Moral der Gewaltfreiheit bei Kindern zu erziehen. Die Sensibilität für Erziehung ohne Schläge oder Züchtigungen ist seit vielen Jahren gewachsen. Kinder werden nicht mit einem moralischen Kompass („Du sollst nicht töten“) geboren. Wichtig sind jedoch auch Bindungen in der Schule, ein Erfolg bei Leistungen im Klassenzimmer oder Sportverein – das alles machen Fachleute wie Baier als Schutzfaktoren gegen Gewalt aus. „Kinder brauchen Vorbilder, die selbst eben gerade nicht vorleben, dass Gewalt ein Weg der Konfliktlösung ist.“

Denn Kriminalität kommt vor, auch und sogar vor allem unter jungen Menschen. Jugendliche und Heranwachsende sind für einen großen Teil der Gewalttaten verantwortlich, nicht nur in Deutschland ist das so. Sie fallen in der Polizeistatistik auf. Gewalt spielt in der Jugend eher eine Rolle als mit Mitte 20, wenn Menschen im Berufsleben ankommen, Familien gründen. Menschen wachsen aus der Straffälligkeit heraus.

„Die Jugend wird friedlicher“, sagt der Kriminologie Dirk Baier

Was nach den Taten in Freudenberg und Pragsdorf schwerfällt, ist der Blick auf einen gegenläufigen Trend: Gewalttaten in Deutschland nehmen ab, seit 2007 sehr deutlich, nicht nur unter Jugendlichen. Deutschland ist sicherer geworden. Und Studien belegen seit Jahren, dass sich Menschen mehr Sorgen vor hohen Mietpreisen, Arbeitslosigkeit oder Klimawandel machen als davor, Opfer einer Gewalttat zu werden.

Seit 2015 ist die Entwicklung weniger deutlich, Zahlen steigen leicht, fallen wieder. „Zwar zeigt sich seit 2015 und 2016 ein noch unklarer Trend, doch lässt sich insgesamt sagen: Die Jugend wird friedlicher“, sagt der Kriminologie Dirk Baier im Gespräch mit unserer Redaktion.

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NRW-Innenminister Herbert Reul ist beunruhigter, beschrieb für sein Bundesland, dass junge Täter unter 14 Jahre zuletzt häufiger der Polizei auffallen. Allerdings nicht nur mit Körperverletzungen oder gar Tötungen, sondern auch mit Delikten wie Diebstahl und Sachbeschädigung. Ein Indiz für steigende Affinität der Jugend zu Gewalt ist auch: Die den Versicherungen gemeldeten Schulhof-Raufereien nahmen in den vergangenen Jahren leicht zu – allerdings nach einem deutlichen Rückgang seit 2000.

Zeigt sich beunruhigt: Herbert Reul, Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen (CDU)
Zeigt sich beunruhigt: Herbert Reul, Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen (CDU) © dpa | Henning Kaiser

Politiker und Polizisten sprechen oft von einer „Verrohung“ der Jugend. Zwar gibt es Berichte der Strafverfolgungsbehörden, die von steigender Aggressivität auf der Straße berichten, etwa in Einsätzen. Zugleich aber lassen mehrere Studien eine Brutalisierung der Jugend nicht erkennen. So hat etwa der Anteil der gebrauchten Schusswaffen unter jungen Menschen seit Beginn der Neunziger stark abgenommen. Zugenommen hat dagegen die Tatwaffe Messer.

Geplante Taten von jungen Menschen sind in der Mehrheit nicht besonders brutal. Heftige Folgen wie schwere Verletzungen oder gar ein Tod resultieren meist aus spontanen Gewaltaktionen, wie die Soziologin Bernadette Schaffer in ihrer gerade erschienenen Dissertation zur Brutalisierung von Jugendgewalt beschreibt. Vor allem sind es einzelne junge Menschen, die Polizei und Justiz immer wieder mit schweren Körperverletzungen auffallen.

Bei vielen fängt es mit Prügeleien an – das steigert sich, Waffen kommen dazu. Wer in Haft landet, erlebt möglicherweise auch dort Gewalt. Es beginnt das, was Forschende oft als „kriminelle Karrieren“ beschreiben. Psychologe Remschmidt sieht diese Laufbahn bei fünf Prozent der jungen Gewalttäter. Das bedeutet auch: Bei allen anderen helfen Maßnahmen, um Auswege aus der Kriminalität zu finden.

Corona-Pandemie hat psychische Erkrankungen bei Kindern anwachsen lassen

Was nachweislich durch Medienanalysen zugenommen hat: die Berichte in Zeitungen, Fernsehen und im Netz über Gewalttaten, vor allem auch in seriösen Medien. Nicht nur im Boulevard. Zugleich werden Bilder und Fotos von Gewalt schneller medial geteilt, etwa in den sozialen Netzwerken. So verbreitete sich auch im Fall Freudenberg ein Video (nicht von der Tat) samt Foto der Täterin rasant im Netz. Diese mediale Dynamik führt zu einer stärkeren Wahrnehmung von Gewaltverbrechen, sind sich Forscher einig.

Fachleuten machen aber gleich mehrere Trends Sorge. Nachweislich haben die Corona-Pandemie und damit verbundene Lockdowns in Schulen, Vereinen und Familien psychische Erkrankungen bei Kindern anwachsen lassen. Noch gibt es keine Studien darüber, ob dieser Anstieg auch zu mehr Gewalt führt – oder besser: in welchen sozialen Gruppen.

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Was leicht wächst, sind jedoch stereotype Bilder von Männlichkeit und entsprechender Rollendominanz unter jungen Menschen. Diese Männlichkeitsideale können Gewalt legitimieren. Vor allem unter Jugendlichen mit Migrationsgeschichte etwa aus der Türkei sind diese Bilder vom „Mann sein“ eher verankert – und können mit entsprechenden Gewalterfahrungen in der Familie verbunden sein.

Diese „Männlichkeit“ leben junge Menschen immer wieder auch in Cliquen aus. Auch das legen aktuelle Studien nahe. „Wir sehen, dass Kinder in Cliquen durchaus schnell lernen, und dann das Falsche: ‚kriminelle Kompetenzen‘, etwa, wie sie Menschen ausrauben. Sie lernen, Gewalt anzuwenden“, sagt Forscher Baier. Und Psychiater Remschmidt schreibt in einer Studie von 2012: „Bei den Straftaten, die in Gruppen ausgeführt wurden, wurden signifikant mehr Personen getötet als von Einzeltätern.“ Auch der Konsum von Alkohol und Drogen nimmt in Gruppen zu – und birgt Risiken der verschärften Gewalt.

Blumen und Kerzen wurden am Fundort des getöteten Mädchens Luise in Freudenberg niedergelegt.
Blumen und Kerzen wurden am Fundort des getöteten Mädchens Luise in Freudenberg niedergelegt. © dpa | Roberto Pfeil

Dirk Peglow, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, sieht eine weitere Gefahr: die Nutzung von sozialen Medien und Messenger-Diensten durch Kinder und Jugendliche. Über WhatApp oder Instagram verbreiten junge Menschen immer wieder auch Bilder und Videos, die Gewalt inszenieren oder verherrlichen. Oft ist das auch scherzhaft gemeint, oft soll es „krass“ sein.

Erkennen und intervenieren – mehr Hilfe für Familien anstatt höhere Strafe für Kinder

Peglow warnt: „Durch das Teilen von gewaltverherrlichenden Inhalten in den sozialen Netzwerken und über Messenger-Dienste finden in jungen Jahren eine Gewöhnung an Gewalt statt, die gefährliche Auswirkungen auf einzelne Menschen haben kann.“ Hier müssten Eltern und Schulen besser sensibilisiert werden.

Ähnlich sieht es Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er, dass auch Anbieter von sozialen Plattformen und Diensten technische Schranken entwickeln müssen, um „Kindern den Zugang zu gewalttätigen Inhalten zu begrenzen“. Maier sagt, „wir sehen eine Verrohung der Kommunikation“.

Die große Mehrheit der Fachleute setzt auf Hilfe für Kinder und Familien. Nur wenige befürworten härtere Strafen oder eine Herabsenkung der Strafmündigkeit etwa auf 12 statt bisher 14 Jahre. „Der beste Schutz vor solchen brutalen Taten sind nicht höhere Strafen, sondern Hilfe für die Kinder und deren Familien, bevor Gewalt ausbricht“, sagt Kriminologe Baier.