Brüssel. Was passiert, wenn bewaffnete Kämpfer Atomdepots stürmen? Wie reagiert Putin bei Druck? Die wichtigsten Fragen zu Russlands Atomwaffen.

Nach dem Söldneraufstand steuert Russland auf weitere Machtkämpfe und eine zunehmend instabile Lage zu. Politiker und Militärs in Europa und den USA sind mit Blick auf das enorme Atomwaffen-Potenzial Russlands besorgt: Verliert Präsident Wladimir Putin die Nerven und setzt im Ukraine-Krieg doch eine Atombombe ein?

Was, wenn Atomwaffen in einem russischen Bürgerkrieg in die Hände privater Söldnertruppen fallen? Unter den EU-Außenministern herrscht Einigkeit: Politisches oder militärisches Chaos in einem Land mit riesigen Atomwaffen-Arsenal ist ein enormes Risiko für Europa. Die US-Regierung hat über diplomatische Kanäle Putin ihre große Sorge übermittelt – und den Kremlherrscher gemahnt, auf eine nukleare Eskalation zu verzichten.

Alle Entwicklungen zur Machtkrise in Russland finden Sie im Blog.

Wie viel Atomwaffen hat Russland und wo?

Aktuell verfügt Russland über rund 5900 Atom-Sprengköpfe, von denen nach unterschiedlichen Angaben zwischen 1588 und 1674 Sprengköpfe sofort einsetzbar sind, vor allem als strategische, weitreichende Atomraketen mit großer Zerstörungskraft. Die Hälfte dieser sofort einsetzbaren Atombomben würde mit Trägerraketen von Land aus abgeschossen, etwa 580 sind für die Atom-U-Boote vorgesehen, der Rest würde von den 60 bis 70 schweren Bomberflugzeugen abgeworfen. Russland hat etwas mehr Nuklearwaffen als die USA, deren Atomarsenal aktuell 5428 Sprengköpfe umfasst – doch macht das militärisch keinen Unterschied. Die strategischen Raketen lagern in etwa zwölf Standorten über ganz Russland verteilt.

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Zu den großen Raketen-Basen zählen Kozelsk 200 Kilometer südwestlich von Moskau, Tatishchevo 600 Kilometer südöstlich von Moskau, Uzhur bei Nowosibirsk, Dombarovskij nördlich von Kasachstan, Kartalay in der Nähe des Kaspischen Meeres und Aleysk im südlichen Westsibirien. Die Depots für die Atom-U-Boote liegen in zwei Basen in der Nähe von Murmansk und in Rybachiy an der Pazifikküste. Die Atom-Bomber sind in Ukrainka in Russlands fernem Osten an der Grenze zu China stationiert und auf der Engels-Basis 600 Kilometer südöstlich von Moskau. Dazu kommen etwa 35 Basis-Depots für die taktischen Atomwaffen. Westliche Experten sind uneins, ob Atombomben auch in der russischen Enklave Kaliningrad lagern. Die Stationierung von Atom-Sprengköpfen in Belarus steht kurz bevor.

Wie sind die Atomwaffen gesichert? Hat Putin die volle Kontrolle?

Die Atombomben lagern in streng gesicherten Depots auf weiträumig abgesperrten Militärgeländen. Laut Nukleardoktrin ist der russische Präsident oberster Entscheidungsträger beim Atomwaffen-Einsatz, ein Alleingang ist aber nicht möglich. Nicht nur Putin besitzt einen Atomkoffer („Cheget“), mit dem über das streng geheime Befehlsnetzwerk Kazbek die Verbindung mit der obersten Militärführung und den Raketentruppen hergestellt wird – auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow besitzen je einen Koffer mit den Codes für den Einsatzbefehl. Aber: Zur Absicherung gegen Fehler sind die Codes aus allen drei Atomkoffern notwendig, Putin ist also auf die beiden Generäle angewiesen.

Greift Putin jetzt in Bedrängnis eher zur Atombombe?

Anzeichen dafür gibt es nicht, aber die Wahrscheinlichkeit könnte zumindest gestiegen sein, weil Putin jetzt Stärke zeigen muss. Jede Schwächung Putins sei auch eine Gefährdung, warnt Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg.

Der Russland-Militärexperte Joris Van Bladel vom Brüsseler Thinktank Egmont sagt, Putin befinde sich nun in einer Zwickmühle und werde impulsiver, mit erhöhter Risikobereitschaft reagieren. „Die Wahrscheinlichkeit verzweifelter Aktionen, einschließlich des möglichen Einsatzes taktischer Atomwaffen, ist eher gestiegen als gesunken“, meint Bladel.

Eine mit Nuklearsprengköpfen bestückbare russische Interkontinentalrakete vom Typ Topol wird auf einer Rüstungsmesse in Moskau präsentiert.
Eine mit Nuklearsprengköpfen bestückbare russische Interkontinentalrakete vom Typ Topol wird auf einer Rüstungsmesse in Moskau präsentiert. © dpa | -

Allerdings verweisen Militärs darauf, dass in der Atom-Befehlskette noch weitere Personen an den Schaltknöpfen sitzen – und in der instabilen Lage möglicherweise einem Abschussbefehl ohne äußere Bedrohung nicht Folge leisten. „Die gut ausbildete, sehr professionelle militärische Führung in Russland würde zögern, diese rote Linie zu überschreiten. Das sind keine Wahnsinnigen“, meint ein Nato-Diplomat.

In westlichen Militärzirkeln wird deshalb ein anderes Atom-Szenario befürchtet: Die gezielte Beschädigung oder Zerstörung des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja durch russische Truppen, in der Folge die radioaktive Verseuchung der Region. Das könnte eine ähnliche demoralisierende Wirkung haben wie ein Bombenabwurf – aber das Atom-Tabu wäre nicht angetastet.

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Wie würde der Westen auf einen Atomwaffeneinsatz reagieren?

Der Schaden für Russland in seinen internationalen Beziehungen wäre immens. Die USA haben erklärt, dass sie eine „verheerende Antwort“ geben würden – nach Einschätzung von Nato-Militärs ist damit eine Reaktion unterhalb der atomaren Schwelle gemeint, etwa ein schwerer konventioneller Angriff gegen russische Truppen in der Ukraine. Die Präsidenten Chinas und Indiens haben Putin klargemacht, dass der Einsatz von Atomwaffen für sie inakzeptabel ist.

In der Nato wird betont, dass Russland den Einsatz taktischer Atomwaffen kaum unbemerkt von westlichen Geheimdiensten vorbereiten könnte – diese Waffen werden getrennt von Flugzeugen und Raketen in Depots gelagert und müssten erst zur Abschussbasis transportiert werden. Die strategischen Atomwaffen werden dagegen in ständiger Einsatzbereitschaft gehalten und können ohne Vorwarnung abgefeuert werden.

Wenn ein Bürgerkrieg ausbricht – bekommen Söldner die Atombomben?

Das ist aktuell die größte Sorge in westlichen Regierungen. „Man könnte am Ende jemand radikaleren als Putin in Moskau haben – das wünscht sich niemand“, heißt es im Auswärtigen Dienst der Europäischen Union. Militärexperten spielen schon das Szenario durch, dass es einer Söldnergruppe gelingt, in Russland die Macht zu ergreifen und die Kontrolle über einige Atomwaffen zu erlangen. „Dann befände sich die Welt auf Neuland“, sagt Alexander Vershbow, ehemaliger stellvertretender Nato-Generalsekretär. „Es ist zweifelhaft, ob ein gestürztes Putin-Regime in der Lage wäre, den Zugang zu Nuklearcodes sehr lange oder überhaupt zu verweigern.“

Ein anderes Szenario: Eine schwer bewaffnete Truppe wie die Wagner-Gruppe könnte in einem Atom-Depot einige Sprengköpfe in Besitz nehmen. Möglich wäre das schon, sagt der in Genf forschende Militärwissenschaftler Pavel Podvig mit Blick auf die Wagner-Gruppe. Aber ohne Hilfe von Soldaten der regulären Atomeinheiten wären die Waffen nicht zu verwenden – schon die Verbindung mit dem Trägersystem sei eine hochkomplexe Aufgabe, sagt Podvig. Und offen wäre die Frage der Aktivierungscodes. Als viel größere Gefahr gilt deshalb eine „schmutzigen Bombe“, bei der konventioneller Sprengstoff mit radioaktivem Material gemischt wird. Eine Befürchtung, die schon beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 bestand: Aufständische in Russland könnten Atommaterial erbeuten, mit der „schmutzigen Bombe“ drohen – und am Ende ganze Landstriche radioaktiv verseuchen.