Berlin. Die Mauer der Sanktionen gegen Russland ist löchrig – auch dank eines raffinierten Importsystems. Eine wichtige Rolle spielt China.

Das neueste Iphone von Apple kostet im Technik-Laden in der Moskauer Innenstadt umgerechnet 1200 Euro, ein neues MacBook 1650 Euro. „Alles ist da und auch in ausreichender Menge“, strahlt der Verkäufer. Und das, obwohl sich der US-Hersteller Apple längst schon aus dem russischen Markt zurückgezogen hat. Trotz aller Sanktionen: Es gibt fast nichts, was es in Russland nicht zu kaufen gibt, so scheint es. Und dies gilt nicht nur für die neuesten Spielzeuge der Generation Iphone.

Rechercheure des unabhängigen und kremlkritischen Online-Mediums Verstka haben russische Zolldokumente und eine Vielzahl weiterer Quellen ausgewertet. „Unsere Untersuchung ergab, dass fast alles von überall auf der Welt nach Russland gebracht werden kann – vom Dual-Use-Chip bis zum Airbus-Triebwerk. Die russischen Behörden umgehen erfolgreich europäische und amerikanische Sanktionen.“

Wie das funktioniert? Über Importe aus Drittstaaten. Die Verstka-Rechercheure haben viele dieser Importe nachverfolgt. Das Muster sei immer das Gleiche. Zunächst wird ein Unternehmen in einem Drittland registriert – bevorzugt von einem nicht-russischen Staatsbürger. Dann kauft dieses Unternehmen das benötigte Produkt entweder auf dem Inlandsmarkt, oder es bestellt direkt beim Hersteller und macht es für den Reexport nach Russland fertig.

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Sanktionierte Produkte landen sogar im Kriegsgebiet

China und die Türkei spielen demnach eine große Rolle, aber auch die Länder der ehemaligen Sowjetunion – darunter Kasachstan, Kirgisistan, Armenien und Usbekistan. Hinzu kommen Indien, Hongkong, Taiwan, Thailand und die Philippinen. „Bei diesen Ländern ist es schwer, die Warenflüsse zu kontrollieren“, sagte ein Manager, der nicht genannt werden will. Wenn vier oder fünf Zwischenhändler beteiligt sind, kann auch das beste deutsche Unternehmen den Weg nicht mehr nachvollziehen. Ein kleinerer Mittelständler hat nicht die Kapazität dafür. Zumal die Zwischenhändler alles daransetzen, die Lieferwege zu verschleiern.

Trotz der Sanktionen gibt es in Russland fast nichts, was es nicht zu kaufen gibt.
Trotz der Sanktionen gibt es in Russland fast nichts, was es nicht zu kaufen gibt. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alexander Zemlianichenko

So landen sanktionierte Produkte sogar im Kriegsgebiet. Importe aus Drittstaaten funktionieren selbst für die russische Rüstungsindustrie. Panzer, Kampfflugzeuge, Flugabwehrraketen, Aufklärungsdrohnen – heutzutage geht nichts ohne Mikrochips. Und die kommen vielfach aus dem Westen. Beispiel: Russlands modernste Marschflugkörper vom Typ Kh-101, Nato-Codename „Kodiak“. Eingebaut sind laut Verstka Chips von amerikanischen Firmen wie Intel und Texas Instruments.

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Chips von Texas Instruments seien im Wert „mindestens 38 Millionen US-Dollar“ importiert worden, so die Verstka-Recherche. Trotz aller Sanktionen. Auch die deutsche Infineon sei im Spiel. Chips ihrer US-Tochter Cypress Semiconductor seien im Wert von „mehr als 3,8 Millionen US-Dollar“ über Drittländer nach Russland gelangt. Cypress-Chips haben die Ukrainer angeblich in abgeschossenen Marschflugkörpern gefunden. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es nicht.

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Auch China und Indien nehmen weiter russisches Öl ab

Importiert werden die Halbleiter überwiegend über China und Hongkong nach Russland, so Verstka. Deren Recherche ergab, dass über China Produkte der großen amerikanischen Hersteller Intel und AMD im Wert von rund 200 Millionen US-Dollar nach Russland kamen. Hunderte Unternehmen würden Mikrochips nach Russland einführen. „Von den 25 größten Importeuren, wie wir feststellen konnten, sind elf direkte Lieferanten von Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes, darunter die fünf größten“, so die Rechercheure.

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Es gibt offenbar viele Wege, die Sanktionsmauer der EU zu umgehen. Die Gemeinschaft hat im Vergleich zu 2021 etwa 49 Prozent der Ausfuhren nach Russland und 58 Prozent der Einfuhren mit Sanktionen belegt – darunter fallen Luft- und Raumfahrttechnologie, elektronische Bauteile, Software, aber auch Luxusgüter wie Champagner. Zudem stehen Öl, Kohle, Stahl, Gold auf der Importverbotsliste. Blockiert haben die EU und die führenden Wirtschaftsnationen (G7) auch rund 300 Milliarden Euro Reserven der russischen Zentralbank. Im Kern geht es darum, Russland von dringend nötigen Devisen abzuschneiden.

In this pool photograph distributed by Sputnik agency, Russia's President Vladimir Putin addresses the nation during Russia's National Flag Day in Moscow, on August 22, 2023. (Photo by Mikhail KLIMENTYEV / POOL / AFP)
In this pool photograph distributed by Sputnik agency, Russia's President Vladimir Putin addresses the nation during Russia's National Flag Day in Moscow, on August 22, 2023. (Photo by Mikhail KLIMENTYEV / POOL / AFP) © AFP | Mikhail Klimentyev

Aber nicht alle ökonomischen Schwergewichte der Welt haben sich den Sanktionen angeschlossen. China und Indien etwa ziehen nicht mit. Allerdings nutzen sie die Lage Russlands aus. So haben führende Wirtschaftsnationen Ende 2022 eine Preisobergrenze für russisches Öl von 60 Dollar je Fass (159 Liter) eingeführt, wenn es mit registrierten Tankern transportiert wird. Russland baute deshalb eine Schattenflotte auf. Denn Kunden gibt es: China und Indien nehmen Öl ab, aber nur mit Abschlägen. Die US-Sorte WTI kostet derzeit um die 81 Dollar.

Russlands Erdölprodukte kommen über Afrika nach Europa

Wichtig sind die Importe aus Drittstaaten auch für die zivile Luftfahrt in Russland. Flugzeug-Ersatzteile sind sanktioniert. Trotzdem hätten die vier größten Fluggesellschaften Russlands, Aeroflot, S7, Pobeda und Rossiya seit Jahresbeginn Ersatzteile im Wert von insgesamt über 100 Millionen Dollar importieren können, so Verstka. Über eine chinesische Firma führte eine Tochtergesellschaft der S7 ein Airbus-Triebwerk ein, über einen in den Vereinigten Arabischen Emiraten registrierten Exporteur ging ein Motor für ein Embraer E170-Flugzeug nach Russland.

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„Nicht alle Fluggesellschaften bestellen Teile direkt. Manchmal tun es andere für sie“, weiß Verstka. So sei der Umsatz eines russischen Zwischenhändlers im Jahr 2022 um 1000 Prozent gestiegen. In diesem Jahr habe dieser sechs Flugzeugtriebwerke für Boeing-Flugzeuge der Baureihen 767 und 737 sowie für den Airbus A320 importiert. Geliefert wurde über die Vereinigten Arabischen Emiraten. „Jetzt kann man immer noch alles nach Russland bringen“, sagte ein Geschäftsmann in Moskau den Rechercheuren.

Die Sanktionen sollten eigentlich vor allem die russische Rüstungsindustrie treffen.
Die Sanktionen sollten eigentlich vor allem die russische Rüstungsindustrie treffen. © imago/ITAR-TASS | imago stock

Bleibt die Frage: Wie werden derartige Importe bezahlt? „Es gibt mehrere Zahlungsmöglichkeiten“, so der Geschäftsmann. Finanzdienstleister, die außerhalb von Russland sitzen, würden gegen eine Provision zwischen 1,5 und fünf Prozent die Zahlungen abwickeln. „Wenn Sie jedoch etwas aus Europa und den USA über China bestellen, benötigen Sie ein chinesisches Unternehmen, das die Waren ordert und sie dann für den Reexport bereit macht“, erklärte ein russischer Importeur gegenüber Verstka. Wichtig sei aber, dass der Nutznießer dieser Firma ein Chinese sei, sagte er: „Wenn man europäischen Unternehmen vorab mitteilt, dass der Nutznießer ein Russe ist, lehnen sie das sofort ab.“

Für Russland ist das Modell der Drittstaaten-Importe inzwischen ein eingespieltes System. Und es funktioniert in beide Richtungen. Auf die gleiche Art und Weise gelangen russische Waren, deren Einfuhr verboten ist, in die EU. Beispiel: Erdölprodukte. Laut Analyse der amerikanischen Beraterfirma S&P Global hat Russland seit Kriegsausbruch den Export von Erdölprodukten in afrikanische Länder um mehr als das Zehnfache gesteigert. Von dort kommen diese dann nach Europa.

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