Berlin. Erst sollte es gar keine deutsche Armee geben, jetzt wird über nukleare Waffen debattiert. Warum Deutschland keine Atombombe hat.

Für Bundeskanzler Konrad Adenauer war die Sache ganz einfach. „Unterscheiden Sie doch die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Natürlich können wir darauf nicht verzichten“, sagte der CDU-Vorsitzende 1957 bei einer Pressekonferenz in Bonn. Gut zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der zum Ende des Deutschen Reiches und zur völligen Entmilitarisierung Deutschlands geführt hatte, wurde in der jungen Bundesrepublik schon wieder heftig über die Wiederbewaffnung des Landes gestritten.

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Eigentlich sollte es gar keine deutsche Armee mehr geben, das hatten die alliierten Siegermächte 1945 beschlossen. Doch nach der Teilung Deutschlands in zwei Staaten, dem 1950 ausgebrochenen Koreakrieg und dem sich verschärfenden Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den Westmächten stieg das Interesse der USA, mit der Bundesrepublik einen schlagkräftigen Bündnispartner an der Frontlinie zum sowjetischen Einflussgebiet zu etablieren.

„Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen“

So vereinbarten die Westmächte und die von Adenauer geführte Bundesregierung 1954 den Aufbau der Bundeswehr und den Beitritt Westdeutschlands zur Nato. Eine Voraussetzung für die Aufnahme in das westliche Bündnissystem war der Verzicht auf atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen. Dem stimmte Adenauer notgedrungen zu, verfolgte allerdings durchaus weiter das Ziel einer atomaren Bewaffnung, wie seine Aussage auf der Pressekonferenz zeigte.

In Deutschland war die Frage der Wiederbewaffnung in jenen Jahren heftig umstritten. An der Spitze des Widerstands stand die SPD, unterstützt von einer breiten Bewegung aus Gewerkschaften und dem Bündnis „Kampf dem Atomtod“, dem zahlreiche prominente Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller wie Heinrich Böll und Erich Kästner angehörten. Sie organisierten große Protestkundgebungen – viele Menschen hatten nach den noch frischen Kriegserlebnissen nichts im Sinn mit einer neuen Armee.

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Noch 1949 hatte der CSU-Politiker Franz Josef Strauß erklärt: „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“ Wenige Jahre später wurde er Verteidigungsminister und zu einem der eifrigsten Befürworter von Atomwaffen im Besitz der Bundeswehr, was aber auf den Widerstand der Amerikaner, Briten und Franzosen stieß. So ganz wollten sie den Deutschen dann doch nicht über den Weg trauen.

Die „nukleare Teilhabe“ und der „rote Knopf“

So beschloss der Bundestag 1958 eine Art Kompromiss: Flugzeuge der Bundeswehr wurden mit Trägersystemen für in Deutschland gelagerte amerikanische Nuklearsprengköpfe ausgerüstet. Über ihren Einsatz soll im Ernstfall eine Nukleare Planungsgruppe beraten, der die Bundesrepublik angehört. Diese bis heute geltende Regelung wird „nukleare Teilhabe“ genannt. Die letzte Entscheidungsgewalt hat aber immer der US-Präsident, der den sprichwörtlichen „roten Knopf“ drücken muss. Für die Bundesrepublik gilt weiter der völkerrechtlich verbindliche Verzicht auf Atomwaffen, der 1990 anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands bekräftigt wurde.

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    Die Frage der atomaren Bedrohung und die Erkenntnis, dass ein solcher Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion und ihren Verbündeten in Europa vor allem auf deutschem Boden stattfinden würde, hatte in den Jahren zuvor immer wieder breite Proteste mobilisiert. 1981 demonstrierten in Bonn 300.000 Menschen gegen den Nato-Doppelbeschluss, der die Stationierung von Mittelstreckenraketen mit atomarer Bewaffnung in der Bundesrepublik gegen entsprechende sowjetische Waffen in der DDR vorsah. Auch in Ostdeutschland entwickelte sich im Umfeld der Kirchen unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ eine Protestbewegung.

    Ein Bundeswehr-Aufklärungsflugzeug vom Typ Tornado rollt auf der Startbahn des Fliegerhorsts Büchel in der Eifel. Dort sind nach inoffiziellen Angaben US-Atomwaffen stationiert, die im Ernstfall von deutschen Kampfjets eingesetzt werden sollen.
    Ein Bundeswehr-Aufklärungsflugzeug vom Typ Tornado rollt auf der Startbahn des Fliegerhorsts Büchel in der Eifel. Dort sind nach inoffiziellen Angaben US-Atomwaffen stationiert, die im Ernstfall von deutschen Kampfjets eingesetzt werden sollen. © DPA Images | Harald Tittel

    In der dem Mauerfall folgenden Entspannungsphase regte sich dann auch Widerstand gegen das System der nuklearen Teilhabe. 2008 forderten Politiker der SPD und der damaligen Oppositionsparteien die Bundesregierung von Angela Merkel auf, sich für den Abzug aller US-Atomwaffen einzusetzen

    „Die Atomwaffen in Deutschland sind ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg und müssen weg“, sagte der FDP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Guido Westerwelle. Der stellvertretende Fraktionschef der Grünen, Jürgen Trittin, forderte, neben dem Abzug aller Atomwaffen müsse Deutschland auf die nukleare Teilhabe verzichten, bei der in einem Krieg Flugzeuge der Bundeswehr Atombomben der USA ins Ziel bringen und abwerfen müssten. Alles andere erschwere den nuklearen Abrüstungsprozess, der aber dringend wieder in Gang gebracht werden müsse, so Trittin.

    Russlands Angriff auf die Ukraine verändert die Debatte

    Die gleiche Forderung erhoben erneut 2020 führende SPD-Politiker gegen die Haltung der Großen Koalition, der sie selber angehörten. Der Co-Vorsitzende der SPD, Norbert Walter-Borjans, bezog „eine klare Position gegen Stationierung, Verfügungsgewalt und erst recht gegen den Einsatz von Nuklearwaffen“. Die nukleare Teilhabe diene dem Einsatz einer „menschenverachtenden Waffengattung, ohne dass eine echte deutsche Mitsprache beim Einsatz gesichert sei. Fraktionschef Rolf Mützenich forderte, die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden künftig auszuschließen. „Atomwaffen auf deutschem Gebiet erhöhen unsere Sicherheit nicht, im Gegenteil.

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    Walter-Borjans wie Mützenich verwiesen zur Begründung vor allem auf die Politik der USA unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump. Der Präsident sei unberechenbar, stelle das vorbehaltlose Vertrauen in die USA als Bündnispartner sehr infrage und sehe den Einsatz taktischer Atomwaffen als Option, kritisierte Walter-Borjans. Mützenich betonte, die USA sähen unter Trump Atomwaffen nicht mehr als Instrument der Abschreckung, sondern als Mittel der Kriegführung: „Das Eskalationsrisiko ist damit unüberschaubar geworden.“ Bundeskanzlerin Merkel, aber auch ihr SPD-Außenminister Maas lehnten die Forderungen ab. Nach inoffiziellen Informationen lagern heute etwa 20 Atomsprengköpfe der US-Armee in einem Fliegerhorst der Bundeswehr bei Büchel in der Eifel.

    Hat mit seinem Krieg in der Ukraine die Diskussion über Atomwaffen in der EU neu entfacht: Russlands Präsident Wladimir Putin.
    Hat mit seinem Krieg in der Ukraine die Diskussion über Atomwaffen in der EU neu entfacht: Russlands Präsident Wladimir Putin. © DPA Images | Alexander Zemlianichenko

    Der Unterschied zwischen den kaum vier Jahre alten Forderungen aus der SPD nach dem Abzug aller Atomwaffen und den aktuellen Überlegungen, eine eigene europäische Atomstreitkraft aufzubauen, zeigt, wie sehr der Angriff Russlands auf die die Debattenlage in Deutschland verändert hat. Schon Ende vergangenen Jahres hatte der frühere Außenminister Joschka Fischer (Grüne) Europa die atomare Aufrüstung als Mittel der Abschreckung des von Wladimir Putin geführten Russland empfohlen. Der Politologe Herfried Münkler stimmte zu: „Wir brauchen einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert“, hatte er vorgeschlagen.